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Sport: Mit Mikrochip und Möhrensuppe

Zehn Millionen Brieftauben bevölkern den deutschen Luftraum – sie fliegen um die Wette

Piep, piep, piep – die Brieftauben werden mit der Hand über das Lesegerät geführt. Es erkennt elektronisch den Chip im Fußring des Vogels. Die Brieftauben checken vor ihrer Reise zum Startpunkt des Wettkampfs ein, diesmal geht es über Nacht nach Dinslaken, 500 Kilometer von Berlin entfernt. Der umgebaute alte Lastwagen, der zum Startpunkt fährt, bietet Platz für 3000 Tauben, 25 pro Käfig. Wichtig ist ein guter, vertrauenswürdiger Fahrer. Er wird alle 100 Kilometer anhalten, die Wasserzufuhr kontrollieren und vor allem in den Kurven vorsichtig fahren, damit die fliegenden Leistungssportler nicht zu sehr durchgeschüttelt werden.

Auch Roland Schmölz hat seine Tauben abgegeben. Morgen wird er in seinem Garten sitzen und auf Ronaldo, del Piero und Kahn warten. Bei vielen Züchtern haben Tauben Nummern, bei Familie Schmölz haben alle 60 einen Namen. Seine Frau Elfie unterstützt ihren Mann bei seinem Hobby, auch Tochter Susanne verbringt viel Zeit im Taubenschlag. Ungewöhnlich für ein Mädchen – auf 100 alte Züchter kommt einer, den man als Nachwuchs bezeichnen könnte.

Zwei Tauben sitzen gerade im Bungalow. Sie stehen wegen Schnupfens unter Quarantäne. Schmölz sorgt sich um jede Taube – zum Futter gehören ungeschälte Sonnenblumenkerne aus dem Reformhaus, das Stroh für den Taubenschlag kommt vom Bio-Bauern. Der Trend unter den Züchtern geht zu Naturheilmitteln. Früher bekamen Tauben von den Züchtern billiges Pressfutter aus England und bei Krankheiten Antibiotika. Bei Großfamilie Schmölz gibt es schon immer Möhrensuppe für alle, bei Schnupfen einen Pfefferminztee und Bachblütensalbe gegen andere Wehwehchen.

Der Kot wird turnusmäßig untersucht, das ist vorgeschrieben. Panik bricht bei Familie Schmölz nur aus, wenn eine Stadttaube angeflogen kommt. Deren Kot ist voll von Krankheitskeimen, die gefährlich für die Zuchttauben sein können. Die empfindlichen Tiere hätten in der Stadt keine Überlebenschance. Die Lieblinge werden bestens versorgt, erst wenn der auf Tauben und Pferde spezialisierte Tierarzt gar nicht mehr weiterweiß, kommen die Patienten in die einzige Taubenklinik der Welt ins Ruhrgebiet nach Essen.

In der Region lebt ein Drittel der 70 000 deutschen Brieftaubenzüchter, die insgesamt zehn Millionen Tauben ihr Eigen nennen. Im 19. Jahrhundert kamen die Brieftauben aus Belgien über das Aachener Kohlerevier ins Ruhrgebiet. In Belgien und den Niederlanden gibt es sogar Dopingkontrollen – Tiere werden dort mit Kortison aufgeputscht, um schneller zu werden - man kann auf den Ausgang der Flüge wetten. In Belgien gibt es für die besten Züchter Autos und Häuser zu gewinnen, in Deutschland geht es um die Ehre und einen Blechpokal.

Das zeitraubende Hobby ist nicht billig, ein paar hundert Euro pro Monat muss Familie Schmölz aufbringen. Eine ganz schnelle Taube kann bei der jährlichen Versteigerung des Verbandes in Dortmund 5000 Euro kosten. Trotz der Konkurrenz legen die Züchter manchmal zusammen, um sich einen Champion leisten zu können.

Um sechs Uhr früh öffnen sich alle Klappen des Kabinenwagens in Dinslaken gleichzeitig, dann läuft die Uhr. Die Tauben machen sich mit 70 Stundenkilometern auf den Heimweg – warum sie ihn finden, kann bis heute niemand erklären. Erdmagnetfelder und Sonnenwinde spielen angeblich eine Rolle, ein Radarfeld am Flughafen kann die Tauben verwirren. Trotzdem, sie kommen immer, irgendwann. Schon Stunden vor der möglichen Ankunft hält Roland Schmölz nervös Ausschau. Der Diplomingenieur betreibt den Brieftaubensport nicht mit vollem Ehrgeiz, dennoch freut er sich, wenn der Flugleiter vor Sonnenaufgang anruft und vom gelungenen Massenstart berichtet.

Wenn sie kommen, werden die Tauben oben auf dem Taubenschlag, der bei Schmölz neben dem Bungalow im Garten steht, elektronisch erfasst. Das Ergebnis ist unbestechlich. Früher musste man noch den Ring von der Taube abnehmen und in einen plombierten Holzkasten eindrehen, der im Vereinslokal ausgewertet wurde. Da ist mancher Züchter verzweifelt, wenn seine Tauben nach der langen Flugreise noch eine Pause auf dem Dach des Taubenschlags eingelegt haben, obwohl der Fußring so dringend gebraucht wurde. Heute gibt es Lesegeräte, die aussehen wie die tragbaren Ticketautomaten des Schaffners im Zug. Bei den deutschen Preisflügen – das Wertungssystem ist nicht so leicht zu verstehen – wird nur noch per Computer ausgewertet, die Ergebnisse sind im Internet abrufbar.

Die Technik bringt Vorteile - seit der Vorhersage des Wetters durch Satelliten gibt es weniger Verluste. Nur noch selten geraten die Wettflieger in Unwetter, die sie das Leben kosten können.

Der Züchter weiß nie, was seine Lieblinge auf ihrer großen Reise alles gesehen haben. Was hat der Nachzügler, der einen Tag später ankommt, erlebt? Elfie Schmölz verfasst für das Fachmagazin „Die Brieftaube“ Gedichte über solche Fragen. Ihr Mann Roland träumt davon, den Flug von Ronaldo und del Piero eines Tages direkt per Satellit verfolgen zu können.

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