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Nationalelf: Die Kunst der Aufstellung

Der deutsche EM-Kader besteht aus zwei vollwertigen konkurrenzfähigen Mannschaften. Aber kann Bundestrainer Joachim Löw aus diesem Quell auch eine Mannschaft formen, die doppelt so gut ist?

Lukas Podolski streifte gestern Mittag durch den verglasten Teil des Mannschaftshotels. Nicht dass er irgendetwas Bestimmtes suchte, doch dann kreuzte sein Weg den eines italienischen Journalisten, der ihm während seiner 100 Länderspiele immer mal wieder begegnet ist. Podolski begrüßte den Kollegen aufs Herzlichste. „Come stai?“, fiel es Podolski aus dem Mund, seine Rechte hatte er dem Italiener dabei schon irgendwie Trost spendend auf die Schulter gelegt. „Wir sehen uns am Donnerstag!“ Mit diesen Worten schloss Podolski die kurze Konversation.

Der zurückgebliebene italienische Kollege, der seit Jahren seine Heimat mit Berichten über den deutschen Fußball versorgt, war einigermaßen erstaunt über die Zuversicht Podolskis. Wie könne der sich so sicher sein, dass er mitspielen darf, wenn es am Donnerstag in Warschau im EM-Halbfinale zum Duell zwischen Deutschland und Italien kommt?

Podolski hatte gerade erst die Kehrseite der sonst so gerühmten neuen Möglichkeiten der Deutschen zu spüren bekommen, die der beste Kader aller Zeiten so hergibt. Obwohl Podolski in seinem 100. Länderspiel noch das wichtige 1:0 geschossen und damit den Sieg über Dänemark eingeleitet hatte, wurde er von Bundestrainer Joachim Löw für das Viertelfinalspiel gegen Griechenland aus der Startelf gekegelt.

Die deutschen Spieler in der Einzelkritik, nach dem 4:2 gegen Griechenland:

Gut, man könnte jetzt einwenden, dass es auch noch andere prominente Spieler wie den dreifachen Turniertorschützen Mario Gomez und Thomas Müller getroffen hat, den Torschützenkönig der vergangenen WM. Doch in der sechsjährigen Amtszeit als Bundestrainer hat kein Spieler öfter unter Löw gespielt als Podolski. „Das ist doch kein Beinbruch“, sagt ein gut gelaunter Podolski. Der Trainer habe ihm das vernünftig erklärt. Dass er gegen die ultradefensiven Griechen mal was ausprobieren wolle. Konnte ja keiner ahnen, dass es dann so gut klappte.

Aber das ist ja das Problem. Noch nie war eine deutsche Mannschaft bis in die Tiefen des Kaders so stark besetzt.

Basiself, Ersatzmannschaft... Die Alternativen sind zahlreich.

Geht man von der Basiself aus, die Löw zum Start in das Turnier schickte, also Neuer – Boateng, Hummels, Badstuber, Lahm – Khedira, Schweinsteiger – Müller, Özil, Podolski – Gomez; so würde die Ersatzmannschaft wie folgt aussehen: Wiese – Bender, Höwedes, Mertesacker, Schmelzer – Gündogan, Kroos, – Reus, Götze, Schürrle – Klose. Vermutlich wäre dieses Team noch genauso im Turnier vertreten wie das deutsche A-Team.

„Die Möglichkeiten sind exzellent. Der Kader war noch nie so gut wie jetzt.“ Das hat Thomas Müller gesagt. Auch ihn, den Münchner WM-Helden, hatten diese Möglichkeiten aus der Startelf geschubst. Für ihn und Podolski hatte Löw gegen die antiken Säulen in der Defensive der Helenen die flinken Reus und Schürrle ins Spiel gebracht. Ein personeller Schachzug, der ebenso aufgegangen ist wie zuvor Löws Entscheidung, gegen die Portugiesen und Holländer nicht mit Klose, sondern dem abschlussstarken Gomez in der Spitze zu operieren.

Was bisher geschah: die Tops und Flops der EM 2012:

Aber wie stark muss ein Kader sein, wie verführerisch die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, dass man eine zuvor dreimal siegreiche Mannschaft gegen Top-Ten-Teams der Welt derart durcheinanderwirbelt?

Die viel besungene Qualität des Kaders ist das eine, das Frustrationspotenzial das andere. „Der Vorteil bei einem qualitativ hochwertigen Kader ist, dass man mal rotieren kann, ohne dass das zu einem Qualitätsverlust führt“, sagte Müller. Und für das Mannschaftsklima sei es eben auch „eher förderlich, denn nachteilig“.

Fakt ist, dass der deutsche Kader gut genug für zwei vollwertige und hoch konkurrenzfähige Mannschaften ist. Aber kann der Bundestrainer aus diesem Quell auch eine Mannschaft filtrieren, die doppelt so gut ist? Vielleicht muss sie das auch gar nicht sein, um erst Italien aus dem Weg zu räumen und im Finale eventuell den Titelverteidiger Spanien in die Knie zwingen zu können?

Welche Elf ist gegen Italien die richtige?

Wovon also macht es der Trainer abhängig? Von den Verdiensten? Man weiß um die Anhänglichkeit Löws Spielern wie Klose und Podolski gegenüber. Sie aber hat es nun erwischt. Also doch die Trainingsleistung vor Ort? Bisher lag Löw stets richtig. Aber hätte er bei diesem Kader überhaupt falsch liegen können? Spielt es bei dieser ausgeglichenen Qualität am Ende gar keine Rolle mehr, wer, wann, wo und gegen wen spielt?

„Ein guter Trainer“, sagt Müller, „der richtet sich auch ein bisserl nach dem Gegner, was man braucht.“ Löw tut dies auf seine Weise. Nämlich nicht derart, wie er seine Mannschaft durch deren personelle Zusammenstellung schützen kann, sondern wie er den Gegner mit ihr treffen und wehtun kann. Ist Löw ein Taktikguru, Herr Müller? „Wenn das Wort Guru positiv belegt ist, dann kann man das so sagen, ja.“

Er sehe bei jedem einen Drang zu spielen, hat Joachim Löw neulich erzählt. „Ich weiß, dass wir in der Hinterhand sehr gute Spieler haben. Das gibt mir das Gefühl, dass ich jederzeit Veränderungen vornehmen kann.“ Auch vor dem Halbfinale gegen Italien.

Das Team von Trainer Cesare Prandelli präsentiert sich taktisch hochgeschult, mental stabil und wie gegen England gesehen, auch physisch ordentlich beieinander. Gut möglich, dass Löw wieder etwas verändert, aber nicht zurück auf den Ursprung. Wahrscheinlicher ist eine Mischung aus beiden Formationen, eine Art Misch-Elf. Also das Beste aus der Basiself, das Verlässliche und die Reife gepaart mit dem Aufsässigen und Durcheinanderwirbelnden der Überraschungself. Gegen Italien braucht es technische Widerstandsfähigkeit, mentale Robustheit einerseits, aber auch Tempo und Beweglichkeit im Positionsspiel, um die starke Defensive auseinanderspielen zu können.

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