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Torhüter

© ddp

Nationalelf: Problemzone Tor

Deutschland, das Land der Torhüter, steht vor einer ungewöhnlichen Schwierigkeit: Der Fußball-Nationalelf fehlt ein Keeper von Weltklasseformat.

Am Sonntag ist Andreas Köpke kurzzeitig aus sich herausgetreten. Er hat sozusagen seine Position als neutraler Beobachter verlassen und ist wieder das geworden, was er früher war: ein Torwart aus Leidenschaft. Köpke, Trainer der deutschen Nationaltorhüter, musste als Augenzeuge auf der Tribüne in Schalke miterleben, wie Manuel Neuer dem Hamburger Paolo Guerrero den Ball ohne Not in den Lauf köpfte und damit die Niederlage der Schalker einleitete. „Du zuckst zusammen und denkst: Sch…“, sagt Köpke. „Du leidest mit ihm.“

Wiese, Enke, Adler und Neuer kämpfen um den Platz im Tor

Manuel Neuer, der morgen 23 Jahre alt wird, ist einer der vier offiziellen Kandidaten, die sich um den Platz im deutschen Tor bei der Weltmeisterschaft 2010 bewerben. Sein Fehler im Spiel gegen den HSV war daher nicht nur für ihn selbst und seine Perspektive ärgerlich; er passt auch in das unschöne Bild, das Deutschlands Torhüter im Moment abgeben. Sogar Oliver Kahn hat sich gerade voller Sorge zu Wort gemeldet: „Es bietet sich momentan keiner an, bei dem man sagt: Der ist die absolute Nummer eins.“

Hat Deutschland, das Land der Torhüter, etwa ein Torhüterproblem? Die Frage hört sich an wie: Sollte Osama bin Laden den Friedensnobelpreis bekommen? Irgendwie verkehrt. „Ich mache mir überhaupt keine Gedanken Richtung WM“, sagt Köpke. „Wir haben sehr gute Torhüter.“ Einen Torhüter von Weltklasseformat aber, das gibt selbst Köpke zu, besitzt der deutsche Fußball derzeit nicht. Geht auch gar nicht, sagt der Bundestorwarttrainer: Weil die Position in der Nationalelf jahrelang von Oliver Kahn und Jens Lehmann besetzt war, habe sich kein Weltklassetorwart herauskristallisieren können. Köpke belegt das auch mit dürren Zahlen: Tim Wiese hat ein Länderspiel bestritten, Robert Enke und René Adler kommen auf je vier Einsätze.

Wenig internationale Erfahrung

Wer immer bei der WM 2010 im Tor steht, er wird nicht einmal 20 Länderspiele vorweisen können, und auch an internationaler Erfahrung mangelt es den Kandidaten: Nur Wiese war bisher regelmäßig in der Champions League im Einsatz. Im schlimmsten, aber durchaus realistischen Fall spielt im WM-Jahr keiner der vier Bewerber mit seinem Verein im Europacup. Da ist es fast logisch, dass der deutsche Fußball derzeit wieder einen Konkurrenzkampf um die Position im Tor erlebt, ähnlich wie vor der WM 2006 – und doch ganz anders. Damals gab es den Wettstreit, weil Deutschland zwei nummer-eins-taugliche Torhüter hatte; derzeit hat Bundestrainer Joachim Löw keinen. „Im Moment ist es nicht so, dass sich jemand einen Vorsprung erspielt hat“, sagt Köpke.

Adlers Vorsprung ist aufgebraucht

René Adler schien diesen Vorsprung zu haben, nachdem er bei seinem Länderspieldebüt stark gehalten hatte und überhaupt so etwas wie des Volkes Liebling ist. „Aber der Vorsprung ist durch zwei schlechtere Länderspiele ein bisschen aufgebraucht“, sagt Köpke. In Leipzig, Adlers Heimatstadt, werben zwar Plakate mit seinem Konterfei für das Länderspiel am Samstag gegen Liechtenstein, doch dass Adler spielt, ist unwahrscheinlich. Er kann nach seiner Ellenbogenprellung erst am Freitag wieder trainieren.

Wenn der Leverkusener ausfällt, wäre das doppelt ärgerlich für ihn: Weil der Torhüter, der gegen Liechtenstein spielt, auch am Mittwoch darauf gegen Wales im Tor stehen soll. Eine neue Chance also für Robert Enke, der zuletzt verletzt fehlte und überhaupt mit dem Standortnachteil Hannover klarkommen muss? Keine Mannschaft hat in der Bundesliga mehr Gegentore kassiert als Hannover 96. „Er wirkt trotzdem nicht verunsichert“, sagt Köpke. „Robert ist einer, den gar nichts aus der Ruhe bringt.“

Wiese ist plötzlich der Geheimfavorit

Oder spielt doch der Bremer Tim Wiese? Sein Stil galt lange Zeit als unvereinbar mit Löws Anforderungsprofil. Wiese war alte Schule: stark auf der Linie, dafür schwach im Raum und vor allem fußballerisch limitiert. Doch der 27-Jährige macht derzeit von allen Kandidaten nicht nur den stabilsten Eindruck, er hat auch sein Auftreten der herrschenden Lehre angepasst. „Er spielt offensiver, kommt weiter raus, liest das Spiel“, sagt Köpke.

Wiese fühlt sich daher auch nicht angesprochen von Kahns Kritik, den Kandidaten mangle es an höchster Konstanz. „Ich weiß nicht, wie er darauf kommt“, sagt Wiese. „Ich bin auf dem richtigen Weg.“ In der Tat entwickelt er sich gerade vom Verpönten zum Geheimfavoriten, zumal er von seinem Naturell her am besten mit der Konkurrenzsituation zurechtkommt: „Von mir aus können die das noch länger durchziehen. Das schreckt mich nicht ab.“

Bei Enke, 31, und Adler, 24, hat man eher das Gefühl, die Ungewissheit belaste sie. Adler sagt von sich, er sei tendenziell der Typ, der Rückhalt brauche. Ähnlich hat sich auch Enke schon geäußert. Die Bundestrainer wollen trotzdem an ihrer Linie festhalten – ohne den Konkurrenzkampf künstlich in die Länge zu ziehen. Einen ersten Hinweis auf die endgültige Hierarchie könnte das vielleicht entscheidende Qualifikationsspiel gegen Russland im Herbst geben. „Wenn wir uns sicher sind, werden wir unsere Nummer eins bekannt geben“, sagt Andreas Köpke. „Dann ziehen wir das durch, auch wenn mal ein schlechteres Spiel kommt.“

Wenn es denn mal bei einem schlechteren Spiel bleibt.

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