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Lehmann

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Nationalmannschaft: Hoffnung ist die Nummer eins

Lehmann, Odonkor, Metzelder: Bei allem Castingrummel hat Bundestrainer Joachim Löw auf den neuralgischen Positionen viel Risikopotenzial angehäuft.

Die Qualitäten des Fußballers Philipp Lahm sind schon oft und ausgiebig gelobt worden: Er ist relativ beidfüßig, besitzt eine überdurchschnittliche Technik, und er kann ein Spiel lesen. Was der Außenverteidiger in der zweiten Halbzeit des Spiels der deutschen Nationalmannschaft gegen Weißrussland las, schien ihm nicht besonders zu behagen. Lahm dribbelte sich an der eigenen Eckfahne durch die ihn attackierenden Gegner, er befreite sich geschickt aus der Bedrohung, und mit einem Kurzpass auf Jens Lehmann hätte er seine Verfolger endgültig abschütteln können. Lahm aber ignorierte seinen Torhüter und entschied sich dafür, den Ball lieber selbst aus der Gefahrenzone zu befördern. Der Ball schaffte es gerade bis jenseits der Strafraumgrenze und landete genau vor den Füßen eines Weißrussen.

Philipp Lahm macht solche Fehler nicht aus Übermut. Er machte diesen Fehler, um einen noch größeren zu vermeiden. Lahm wollte unter allen Umständen vermeiden, den Ball in die Obhut von Jens Lehmann zu geben.

Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Verteidiger ihrem eigenen Torhüter nicht über den Weg trauen. Und es ist ein ziemlich schlechtes Zeichen, wenn das anderthalb Wochen vor dem Beginn eines großen Turniers passiert. Beim 2:2 gegen Weißrussland spielte Jens Lehmann wie ein Torhüter, der eine ganze Saison auf der Bank gesessen hat, dem der Rhythmus fehlt und der deshalb viele Situationen falsch einschätzt. Das Schlimme ist: Jens Lehmann ist ein Torhüter, der eine ganze Saison auf der Bank gesessen hat, dem der Rhythmus fehlt und der deshalb viele Situationen falsch einschätzt. Noch schlimmer ist, dass Bundestrainer Joachim Löw von dieser Nachricht offenbar ein bisschen überrascht worden ist.

Mit seinem Hang zur Akribie hat Löw die EM gedanklich schon in sämtlichen Varianten durchgespielt, er hat seinen Kader so zusammengestellt, dass er auf möglichst viele Eventualitäten vorbereitet ist, er hat einen limitierten Spieler wie David Odonkor nominiert, der nur für bestimmte Momente zu gebrauchen ist. „Wenn-dann-Strategie“ nennt er das. Aber könnte es sein, dass Löw vor lauter Liebe zum Detail das große Ganze aus dem Blick verloren hat? Der Wettbewerb um die Plätze 21, 22, 23 in seinem Aufgebot hat von den sehr viel gravierenderen Problemen abgelenkt, die der Bundestrainer auf den Positionen 1 bis 11 noch zu lösen hat. In seinem Kader stecken ein bisschen zu viel Glaube und Hoffnung – vor allem auf neuralgischen Positionen.

Für das Gelingen des Projekts Europameisterschaft ist es vermutlich unerheblich, ob Oliver Neuville als fünfter Stürmer nicht eingewechselt wird oder Patrick Helmes; aber es ist essenziell, ob Löw die Abläufe im Spiel seiner Mannschaft noch zu automatisieren vermag und ob er bis zum Start des Turniers eine funktionierende Defensive hinbekommt. Dass der Bundestrainer dabei auf einen Torhüter setzen muss, der keine Spielpraxis hat, vor dem ein zentraler Verteidiger spielt, der keine Spielpraxis hat, ist nicht unbedingt ermutigend.

Mehr noch als bei Jens Lehmann hat sich Löw bei Christoph Metzelder der Autosuggestion hingegeben: Das wird schon. So, wie es auch 2006 wurde. Weil Metzelder vor der WM 2006 im Verein wenig gespielt hatte und in der Vorbereitung leicht angeschlagen war, wird ihm jetzt die Fähigkeit nachgesagt, bei jedem Turnier gerade noch rechtzeitig zu großer Form aufzulaufen. Metzelder hat bei Real Madrid die komplette Rückrunde verpasst, und er weiß selbst, dass das ein Ausnahmefall ist, „der nicht optimal ist“. Von den Weißrussen wurde der Innenverteidiger sehr schnell als offenes Sicherheitsrisiko bei den Deutschen ausgemacht. Beide Gegentore wurden von ihm begünstigt, das zweite in Koalition mit Jens Lehmann. „Wir haben alle miteinander gelitten“, sagte Metzelder. „Aber es ist klar, dass ich es besonders getan habe.“

Ein wenig ist es so wie kurz vor der WM 2006. Auch da fand sich die Mannschaft erst auf den letzten Drücker. Gegen Weißrussland stimmten die Abläufe nicht. Die Mannschaftsteile griffen nie richtig ineinander. Bastian Schweinsteiger im linken Mittelfeld hielt es offenbar für unter seiner Würde, sich am Defensivspiel zu beteiligen, der wirre Odonkor auf der anderen Seite irritierte mit seinem Aktionismus in der Rückwärtsbewegung immerhin gelegentlich auch den Gegner. Gerade angesichts der Abstimmungsmängel ist es unerklärlich, dass Löw das vorletzte Testspiel dafür herschenkte, um seine Streichkandidaten noch einmal zu sehen. Der Bundestrainer aber hält seine Mannschaft inzwischen für strukturell derart eingespielt, dass die Feinabstimmung auch im Training zu erzielen sei.

Für das letzte Testspiel am Samstag gegen Serbien hat Löw bereits angekündigt, dass Jens Lehmann erneut im Tor stehen wird. „Wir sind von Jens überzeugt“, sagte er. „Dazu stehen wir.“ Dem Gesetz der Serie nach müsste Lehmann seinem schwachen Auftritt in Kaiserslautern nun wieder eine starke Leistung folgen lassen. Was aber passiert, wenn das nicht der Fall ist, möchte man sich gar nicht ausmalen. Joachim Löw kann dann zwischen einem Torhüter – Robert Enke – wählen, der ein Länderspiel bestritten hat, und einem – René Adler –, der noch gar keins bestritten hat.

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