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Sport: Neue deutsche Welle

Spielerische Leichtigkeit dank defensiver Ausrichtung: Im Viertelfinale gegen die Portugiesen musste sich Bundestrainer Joachim Löw erst untreu werden, um sich treu zu bleiben

Die Blicke von der Seitenlinie gingen sehnsüchtig nach oben. Wir woll’n den Jogi seh’n!, schienen sie zu rufen, aber Joachim Löw, den alle Jogi nennen, zeigte sich nicht. Irgendwann öffnete sich die gläserne Tür jener Loge, in der der Bundestrainer das Viertelfinale der deutschen Nationalelf verfolgt hatte, und heraus trat: Urs Siegenthaler. Der Chefscout des Deutschen Fußball-Bundes reckte seine Faust in die Luft, suchte Blickkontakt mit der deutschen Delegation am Spielfeldrand und rief: „Hansi!“ Hans-Dieter Flick hörte es nicht.

Der Urs, der Hansi und der Jogi – irgendwo in diesem magischen Dreieck war jene taktische Anleitung für die deutsche Mannschaft erdacht worden, die nach dem Sieg gegen Portugal als strategische Meisterleistung gefeiert wurde. Löw berichtete, dass Siegenthaler einige wichtige Details beigetragen habe, Flick sagte: „Es ist doch sekundär, was von wem entschieden wird.“ Entscheidend war laut Löw, dass die Deutschen „viel von den Stärken der Portugiesen aus dem Spiel genommen“ hatten. Es gelang ihnen mit einer simplen Systemumstellung. Aus dem gewohnten 4-4-2 machte Löw ein 4-5-1, in dem sich Simon Rolfes und Thomas Hitzlsperger das defensive Mittelfeld teilten, Michael Ballack etwas davor in der Zentrale spielte und Miroslav Klose als einziger Stürmer auflief. Das System ist so etwas wie der letzte Schrei im Weltfußball, doch Löw hat sich dieser Mode bisher standhaft verweigert.

Ob er für den Erfolg gegen Portugal seine Ideale verraten musste, wurde der Bundestrainer nach dem Viertelfinale gefragt. Natürlich nicht, antwortete Löw, an der taktischen Ausrichtung habe sich schließlich nichts geändert, am dynamischen Spiel nach vorne, dem schnellen Umschalten und den vertikalen Flachpässen in die Spitze. Trotzdem: Joachim Löw musste sich in gewisser Weise erst untreu werden, um sich treu zu bleiben. An dem Abend, an dem der gesperrte Bundestrainer und seine Mannschaft so weit von einander entfernt waren wie noch nie, fanden sie wieder zueinander und zu sich selbst. Dass sich dabei einige Widersprüche auftaten, lässt sich – erstens – nach einem solchen Sieg recht leicht ertragen und – zweitens – unter der Rubrik „Turniererfahrung“ ablegen.

Joachim Löw hat vor seinem ersten Turnier als Cheftrainer glaubhaft den Eindruck vermittelt, auf alle Eventualitäten perfekt vorbereitet zu sein; allerdings musste er relativ schnell erkennen, dass eine solche Veranstaltung ihre eigene Dynamik entwickelt und eine flexible Reaktion manchmal hilfreicher ist als das sture Festhalten an scheinbar heiligen Prinzipien. Gerade noch rechtzeitig hat der 48 Jahre alte Bundestrainer zu dieser Flexibilität gefunden. Er hat Arne Friedrich lange offiziell als Innenverteidiger geführt, in der Stunde der Not aber versetzte er ihn doch wieder auf die rechte Außenbahn, der Einflugschneise Cristiano Ronaldos. Die Mannschaft sollte leicht, licht und loungig daherkommen wie die Designhotels, in denen sie jetzt absteigt, doch dann spielte sie gegen Österreich wieder Fußball aus massiver Eiche – mit ausdrücklicher Billigung des Trainers. Löw verlangt von seinem Team, dass es dem Gegner sein Spiel aufzwingt, im Viertelfinale aber richtete er seine Aufstellung explizit auf die Portugiesen aus.

„Für heute war es auf jeden Fall die richtige Taktik“, sagte Simon Rolfes. „Dadurch dass wir im Zentrum so kompakt gestanden haben, haben wir wenig zugelassen.“ Löw, der Verfechter des offensiven Kombinationsfußballs, musste der Mannschaft in ihrem Zentrum ein Zentralmassiv errichten, das den Raum verstellte und die Bälle abfing; also der Mannschaft erst eine defensivere Ausrichtung verordnen, damit sie zu spielerischer Leichtigkeit zurückfand. An diesem Abend gelang ihr eine seltene Symbiose: Sie mixte die deutschen Tugenden mit spielerischer Schönheit. Zwei Tore fielen nach Standardsituationen, das erste nach der vielleicht modischsten Kombination des Jahres.

Einer, der bisher für die defensive Grundordnung der Deutschen zuständig war, applaudierte im Stehen. „Es war heute leichter, die 6er-Position zu spielen“, sagte Torsten Frings, „trotzdem großes Kompliment.“ Der durch einen Rippenbruch nicht spielfähige Bremer wollte nicht mehr sagen, weil er niemandem die Schau stehlen wollte. Auf die Frage, wie es denn nach dem Spiel in der Kabine zugegangen sei, antwortete er: „Tanzen alle, die Jungs.“

Das tat Löw in dieser Nacht nur innerlich. „Wir haben beweisen, dass wir stark sein können“, sagte er anderntags und philosophierte darüber, dass es ganz gut sei, wenn er die Spieler „sich mal ausfreuen lässt“. Er weiß, dass dieser Sieg nicht nur eine Wirkung nach innen, sondern auch nach außen hat. Man habe alles in dieses Spiel reingelegt: Wille und Leidenschaft und Spielkultur auf einem hohen Niveau. „Mit uns ist zu rechnen.“ Direkt nach dem Abpfiff war es Lukas Podolski, der sich auf dem letzten Zipfel Rasen vor der deutschen Kurve eines der beiden EM-Maskottchen griff. In seiner Ausgelassenheit brachte er es zu Fall, beide verschmolzen zu einem umherkugelnden Knäuel. „Der Akku ist noch nicht leer, vieles ist drin“, sagte er, als ein aus deutscher Sicht überaus gelungener Abend in den Morgen überging. Schließlich sagte er einen Satz, der so etwas wie die Essenz der deutschen EM-Spiele ist: „Man kann ja nicht jedes Spiel super spielen, und am Ende fliegt man raus.“ Spielerische Schönheit alleine gilt den Deutschen noch lange nicht als einziger Garant für Erfolge.

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