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Nie wieder Wembley? Dass Linienrichter wie Tofik Bakhromov im WM-Finale 1966 strittige Torentscheidungen treffen, soll es bei Fifa-Turnieren bald nicht mehr geben.

© dpa

Neue Torlinientechnik: Es sieht etwas, was Du nicht siehst

Für die einen ist die Torlinientechnologie lange überfällig. Für andere ist sie Anfang vom Ende des Fußballs. Für den Philosophen Gunter Gebauer bringt sie vor allem eins: Gerechtigkeit.

Beginnen wir beim Tennis – und im Jahr 2010. Die Hawk-Eye-Technologie, die nun, wie das Regelkomitee des Fußball-Weltverbands Fifa am Donnerstagabend beschloss, auch beim Profifußball unter Wettkampfbedingungen getestet werden soll, war zu diesem Zeitpunkt bereits bei allen Grand-Slam-Turnieren anerkannte Entscheidungshilfe – außer bei den French Open. Just dort verlor der heutige Weltranglistenerste Novak Djokovic seine Viertelfinalbegegnung gegen den Österreicher Jürgen Melzer in fünf Sätzen. Beim Stande von 4:5 und 15:0 aus Djokovics Sicht im fünften Satz entschied der Schiedsrichter einen Ball des Serben knapp Aus. Djokovic verlor den Satz mit 4:6, wütete noch lange nach dem Match, nannte die Entscheidung „unglaublich“. Doch als ihm gezeigt wurde, wie das Hawk Eye einwandfrei bewies, dass er – Djokovic – tatsächlich recht hatte, wandte der sich überraschenderweise gegen die Technologie. „Das ist alles Teil des Sports“, sagte Djokovic zu seinem unglücklichen Ausscheiden.

Teil des Sports – so würden wohl auch viele Fußballtraditionalisten strittige Torentscheidungen nennen, und damit ihre Ablehnung der Torlinientechnik begründen. In den Kommentarspalten und Onlineforen geht es derzeit viel um Tradition, die Unmittelbarkeit des Spiels, nicht zuletzt die Universalität des Fußballs. Der wurde – so sehen es die Traditionalisten – bis Donnerstagabend von der Champions League bis in die Kreisliga unter grundsätzlich gleichen Bedingungen gespielt. In Zukunft, das ist die pessimistische Sicht, gibt es dieses eine Spiel nicht mehr.

Schiri, man sieht es doch! - der Selbsttest zur Torlinien-Problematik:

Die Frage muss hier natürlich sein: Hat es das je gegeben? Diesen einen Fußball, der überall gleich ist? Ein Blick auf Sportplätze aller Klassen lässt schnell Zweifel aufkommen – der o-beinige Kreisligaschiedsrichter scheint denkbar wenig mit den austrainierten Bundesligakollegen zu tun zu haben. Die Universalität des Fußballsports – sie ist bei näherem Hinsehen bereits jetzt Fiktion.

Die Grundsatzfrage spaltet die Fußball-Gemeinde in zwei Lager.

Und doch, so könnte man an dieser Stelle einwenden, gibt es eine genuine Gemeinsamkeit zwischen Theken- und Spitzenschiedsrichter: Beides sind Menschen – und der eine legitimiert den anderen mit seinen Fehlern. Aber ist das wirklich so? „Die Spaltung gibt es längst – allein dadurch, dass der Profifußball so grundlegend von Kameras durchleuchtet ist“, sagt der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer. Am Ende sei das grundlegende „Ja“ der konservativen Fifa zur Torlinientechnik auch eine Reaktion auf diese mediale Prädisposition: „Die Bedeutung, um die es hier geht, ist die Bedeutung von Sichtbarkeit und allem, was das zur Folge hat.“

Bleibt die Frage, wohin das alles führen soll. Ist das „Ja“ zur Torlinientechnik tatsächlich „eine Richtungsentscheidung für die elektronische Überwachung und Beweisführung von Allem“, wie es ein User auf Tagesspiegel.de vermutet? Die Fifa-Offiziellen bestritten das zuletzt. Ein genauer Grund, warum der Torkamera nicht auch andere Kontrollmechanismen folgen sollten, lässt sich allerdings schwer finden. Der Versuch des Torlinientechnikbefürworters Gebauer, etwa den Ruf nach Videobeweisen bei Abseitsstellungen mit der Frage nach der „Wahrheit der Bewegung“ zu delegitimieren, also damit, dass „die eingefrorene Aktion, die nachgezeichnete Linie“ überhaupt nicht mehr der menschlichen Wahrnehmung entspricht, verfängt nur halb: Denn auch, was Hawk Eye und Co zu zeigen vermögen, entspricht nicht der menschlichen Wahrnehmung. Sonst gäbe es die Systeme ja nicht.

So muss die Frage nach der Torlinientechnik als Grundsatzfrage im Raum stehen bleiben. Eine, die die Gemeinde in Lager spaltet: diejenigen, die die Aufrichtigkeit des Wettbewerbs betonen, und jene, die die Universalität des Spiels in den Vordergrund stellen. Und natürlich die, die das Wesen des Fußballs weniger im Spiel selbst als in den sich anschließenden Diskursen sehen. Gunter Gebauer kann diese Haltung am wenigsten nachvollziehen: „Wenn man freiwillig darauf verzichtet, das Entscheidende des Spiels einwandfrei zu klären, weil es angeblich ein Vorteil ist, sich 50 Jahre über Ungerechtigkeiten aufregen zu können, dann ist das absurd.“ Letztlich helfe die Technik, das sichtbar zu machen, was Sport vor allem anderen sichtbar machen wolle: „Gerechtigkeit. Dass derjenige, der etwas leistet, dafür belohnt wird.“

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