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An der Seitenlinie. Als Generalsekretär des Deutschen Fußball-Bundes hat sich Wolfgang Niersbach für den Chefposten in Position gebracht.

© dpa

Neuer DFB-Präsident: Wolfgang Niersbach: Der logische Kandidat

Wenn es wichtig wurde im deutschen Fußball, dann stand Wolfgang Niersbach an der Seite der Nationalmannschaft. Meist im Hintergrund und gut gelaunt. Doch jetzt soll er Präsident aller Fußballer werden. Sein Lebenstraum sei das nie gewesen, sagt er. Sein Ziel war es schon.

Als die Basis aus dem Saal drängt, zu Apfelstreusel und Bienenstich, bleibt Wolfgang Niersbach auf seinem Stuhl sitzen. Er blickt auf die leere Bühne, während sich in seinem Rücken der Raum leert, aber irgendwann steht die Basis doch neben ihm. Die Jugendleiterin der FT Gern, die eben auf dem Podium aus dem Alltag ihres Amateurklubs berichtet hat, tritt an ihn heran. Niersbach steht auf, er begrüßt die Frau per Handschlag und fängt an zu reden. Die Jugendleiterin der FT Gern muss ihm wie eine Abgesandte aus einer anderen, ihm vertrauteren Welt vorkommen. Die Jugendleiterin heißt Daniela Lahm. Ihr Sohn Philipp ist Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

Die Basis, das ist der Amateurfußball-Kongress „Verein(t) in die Zukunft“ in Kassel. Dreihundert Vertreter debattieren auf Einladung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) über die Zukunft des Graswurzelfußballs, drei Tage sitzen sie im fensterlosen Saal Palazzo. Dunkelblauer Teppichboden mit Lilien-Muster in Gold, geschwungene Emporen an den Wänden, runde Sechsertische mit weißen Tischdecken, ledergepolsterte Stühle. Und Wolfgang Niersbach, der Generalsekretär des DFB, ist zu Gast bei Fremden.

„Eine bessere Vorbereitung auf den DFB-Bundestag hätte ich mir nicht wünschen können“, sagt er am Ende des Kongresses. Am Freitag wird Niersbach wieder in einem Tagungshotel sitzen, diesmal am Frankfurter Flughafen, beim Außerordentlichen Bundestag des DFB. Einziger Tagesordnungspunkt: die Wahl eines Nachfolgers für den scheidenden Präsidenten Theo Zwanziger. Einziger Kandidat: Wolfgang Niersbach. Seine Wahl gilt als Formsache, zwei Stunden sind für den Bundestag veranschlagt. Und der Ort der Krönung, ein Hotel zwischen Autobahn, Einflugschneise und ICE-Trasse, hat als Vorzug, dass man gut hinkommt und schnell wieder weg. Die Sache soll nicht größer gemacht werden, als sie ist. Dabei ist sie das.

Mit 6,7 Millionen Mitgliedern, 25 727 Vereinen und 171 567 Mannschaften ist der DFB der größte Einzelsportverband der Welt. Als Präsident steigt Niersbach zu einem der mächtigsten Männer im deutschen Sport auf. Seitdem seine Kandidatur feststeht, treibt den 61-Jährigen die Frage um, ob er auch künftig noch ungestört in seiner Dorfkneipe sein Bier trinken kann. Niersbach ist Rheinländer von Geburt und Gemüt. Weggefährten beschreiben ihn als jovial, zuverlässig und verbindlich, pragmatisch und zielstrebig, kommunikativ und meistens gut gelaunt. Im Grunde war Niersbach der logische Kandidat, und trotzdem hat er gezögert. Schlaflose Nächte habe ihm die Sache bereitet, sagt er, und überhaupt sei es nie sein Lebenstraum gewesen, DFB-Präsident zu werden. Mag sein, dass es nicht sein Lebenstraum war, sagen Leute, die ihn seit Jahrzehnten kennen, sein Ziel war es auf jeden Fall.

WM-Turniere, Bundesliga, der große Fußball ist Niersbachs Welt

Niersbach war 22, als er in seiner Heimatstadt Düsseldorf beim Sportinformationsdienst klingelte, um zu fragen, ob er nicht mitmachen dürfe. Er durfte. Wolfgang Niersbach wurde Volontär, später Redakteur und schon nach fünf Jahren Fußballchef des SID. Frühere Kollegen schildern ihn als extrem fleißig. Wenn sie morgens ins Büro kamen, saß Niersbach schon am Schreibtisch. Meistens hatte er den Telefonhörer am Ohr und Karl-Heinz Rummenigge in der Leitung. Oder Erich Kühnhackl, Xaver Unsinn, Uli Stielike. Wie geht’s? Gibt’s was Neues? Ach, ein neuer Vertrag? Viele, über die er damals berichtet hat, sind heute seine Freunde.

Auf journalistische Distanz hat Niersbach nie besonderen Wert gelegt. Er wollte nicht zuschauen, er wollte dazugehören. Bei der Weltmeisterschaft 1986 durfte er als einziger Journalist mit DFB-Präsident Hermann Neuberger im Hubschrauber zu einem Spiel der Deutschen fliegen. Schon damals hat Niersbach ein Netz an wertvollen Kontakten gesponnen, das immer dichter geworden ist. Zur Bundeskanzlerin Angela Merkel besitzt er seit seiner Zeit im Organisationskomitee für die WM 2006 einen guten Draht. Michael Vesper, der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, hat mit ihm in Düsseldorf dasselbe Gymnasium besucht, Michel Platini, der Präsident des europäischen Fußballverbandes Uefa, ist ebenfalls ein guter Kumpel und Günter Netzer „einer meiner besten Freunde“, wie Niersbach sagt.

Das Zentrum in diesem Universum aber ist Franz Beckenbauer, mit dem er von 1988 bis 1990 als Pressesprecher bei der Nationalmannschaft zusammengearbeitet hat. „Die beiden Jahre mit Beckenbauer waren ein Traum“, hat Niersbach einmal gesagt.

WM-Halbfinale 1990, Deutschland gegen England, Elfmeterschießen. Als der letzte Elfmeter der Engländer über die Latte fliegt, schwenkt die Kamera auf Beckenbauer. Der Teamchef springt dem Ersatzspieler Paul Steiner in die Arme. Dahinter sieht man einen Mann im dunklen Sakko durch die Luft hüpfen, die Arme in die Höhe gereckt, den Mund weit aufgerissen und den Blick immer auf den Teamchef gerichtet. Als Beckenbauer aufs Feld läuft, spurtet Niersbach hinterher. Für einen Moment schafft er es, ihm den Arm auf die Schulter zu legen, dann ist der Kaiser ihm entwischt.

„Der Putzer des Kaisers“ hat ihn eine Zeitung in jener Zeit genannt. Niersbach war der, der dem Teamchef den Rücken freigehalten hat, der alles Störende weggewischt hat. Beckenbauer hat sich längst dafür erkenntlich gezeigt. Nach dem Finale schenkte er Niersbach seine goldene WM-Medaille – vor allem aber hat er seinen Adlatus fortan nach Kräften gefördert. Beckenbauer holte Niersbach in den Kreis der WM-Organisatoren 2006, und als die Nachfolge Zwanzigers noch nicht geregelt war, verkündete er kraft seiner kaiserlichen Autorität: „Wolfgang Niersbach ist der Beste.“ Beckenbauer, den viele immer noch für den mächtigsten Mann im deutschen Fußball halten, weiß nun einen engen Vertrauten und echten Freund an der Spitze des Verbandes.

Aber was stellt der mit seiner künftigen Rolle an? Beim Kongress der Amateure in Kassel kriegt man davon eine Ahnung. Dort sitzt er neben Theo Zwanziger an Tisch A direkt vor der Bühne. Es ist ihr letzter gemeinsamer Auftritt vor dem Wechsel an der Spitze. Zwanziger ist 2004 ins Amt gekommen, weil er das Grummeln der Amateure gegen den damaligen Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder zu seinen Gunsten zu kanalisieren wusste. „Der Amateurfußball ist meine Heimat“, sagt er auf dem Kasseler Podium. „Man muss merken, dass das Herz dahinter steht.“ Jeder versteht in diesem Augenblick auch, dass Niersbachs Herz nicht dem Amateurfußball gehört.

Vor ein paar Monaten hat Niersbach im Fernsehen eine „lustige, kuriose Geschichte“ erzählt, die er 1979 nach dem DFB-Pokalfinale zwischen seinem Lieblingsverein Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC erlebt hat. Wie die Geschichte angefangen hat, weiß er selbst nicht mehr, Niersbach erinnert sich nur noch, dass der DFB-Pokal auf einmal in seinem Zimmer stand. „Ich war also übernervös, hab’ im Hotelzimmer alle Vorhängeschlösser zugemacht und kaum ein Auge zugetan. Auf einmal wurde mir bewusst, was für einen Schatz ich da in meiner Nähe hatte, welche Verantwortung auf mir lastete.“

Jeder DFB-Präsident hatte sein Thema. Und der neue?

In Kassel ist der große Fußball weit weg. Niersbach tastet sich an ein Paralleluniversum heran, er zeigt Präsenz, aber er gaukelt den Leuten nichts vor, was er nicht ist. Nachdem er zwei Tage lang zugehört hat, tritt er am dritten aufs Podium, um die Ergebnisse der Debatten zu präsentieren. „Herausragend gut“ nennt ein Teilnehmer Niersbachs Auftritt später. Hermann Korfmacher, der als Vizepräsident im DFB für die Belange der Amateure zuständig ist, versichert dem künftigen Präsidenten, „dass er uns alle als loyale Partner an seiner Seite hat“.

Dass Niersbach sich keine Sorgen um die Basis machen muss, hat er vor allem seinem Vorgänger zu verdanken. „Er hat es sich mit allen verscherzt“, sagt jemand aus dem Verband über Theo Zwanziger. Kaum etwas rechtfertigt den Überdruss an ihm besser als die Umstände seines Rücktritts im Dezember 2011. Es ist eine einsame Entscheidung, von der selbst Niersbach als Generalsekretär erst wenige Stunden vorher erfährt. Zwanziger hat die Jahresabschlussfeier als Bühne für seinen letzten großen Auftritt auserkoren. Um 20 Uhr soll die Veranstaltung beginnen. Um 20.01 Uhr erscheint auf „Bild“-Online die Nachricht, dass der Präsident seinen Rücktritt verkündet habe. Dummerweise aber verspätet sich der Beginn der Feier um eine gute Viertelstunde. Als Zwanziger anfängt zu reden, wissen die meisten längst, was er angeblich schon zu ihnen gesagt hat. „Es war gespenstisch“, berichtet jemand, der dabei war.

Zwanziger ist auch mit dem Plan gescheitert, seinen Nachfolger selbst zu bestimmen. Dass er Niersbach inzwischen bei jeder Gelegenheit als seinen Wunschkandidaten bezeichnet, halten Kenner für einen schlechten Scherz. Das Verhältnis des Präsidenten zu seinem Generalsekretär gilt längst als belastet – vermutlich weil Niersbach sich nach Zwanzigers Geschmack nicht mehr enthusiastisch genug für seine Belange eingesetzt hat. Nach der Ankündigung seines Rücktritts brachte er nicht etwa Niersbach ins Gespräch, sondern Erwin Staudt, den früheren Präsidenten des VfB Stuttgart, und als er feststellte, dass dieser Vorschlag keine Zustimmung finden würde, spielte Zwanziger kurz mit dem Gedanken, seinen Rücktritt vom Rücktritt zu erklären. Das war der Moment, in dem Niersbach sagte: „Ich mach’s.“

Mit seinem Amtsantritt verbindet sich im DFB die Hoffnung auf einen neuen Stil. „Er ist teamfähig, ein sehr guter Moderator und kann Leute für sich einnehmen“, sagt Schatzmeister Horst R. Schmidt, der seit 1976 für den Verband arbeitet. Auch Niersbach ist bereits seit 1988 dabei. Trotzdem hat Zwanziger, der selbst nur fünf Jahre älter ist, Niersbach jetzt geraten, er solle sich unbedingt „seinen jugendlichen Charme“ erhalten. Der Generalsekretär ist so etwas wie der Berufsjugendliche des DFB. Er ist immer in Bewegung, wippt ständig auf seinen Fußballen auf und ab, und beim Reden fliegen seine Hände durch die Luft. Die Frage ist nur: Wohin wird Niersbach den Verband mit seiner Dynamik führen?

Jeder DFB-Präsident hatte sein Thema. Hermann Neuberger glänzte als Organisator, Egidius Braun war das soziale Gewissen des Fußballs, Gerhard Mayer-Vorfeld hat die Nachwuchsausbildung reformiert, und Theo Zwanziger konnte sich auf gesellschaftlichem Gebiet profilieren: Er hat den Frauenfußball gefördert, gegen Rassismus und Homophobie gekämpft, die Geschichte des DFB während der Nazizeit wissenschaftlich erforschen lassen. Wolfgang Niersbach hat noch nicht erkennen lassen, wofür er steht. Alle, die ihn kennen, sagen, dass er den Fußball wieder stärker in den Mittelpunkt rücken und sich auf das Kerngeschäft beschränken werde. Dass Niersbach wie sein Vorgänger beim Christopher Street Day auftreten wird – unvorstellbar. Der Fußball ist sein Thema, seine Leidenschaft.

Bei der Podiumsdiskussion im Saal Palazzo fragt der Moderator die Jugendleiterin der FT Gern, was sie denn davon halte, wenn der Herr Niersbach sich mit dem Kapitän der Nationalmannschaft bei der nächsten Prämienverhandlung darauf verständige, eine Null der Summe zu streichen. Den eingesparten Betrag könnte man dann den Amateuren zukommen lassen. „Eigentlich müsste der Kapitän umsonst spielen“, antwortet Daniela Lahm. Es ist ein Scherz. Der Saal jedenfalls lacht. Auf den beiden Videowänden neben der Bühne wird das Gesicht von Wolfgang Niersbach eingeblendet. Er lächelt und nimmt einen Kugelschreiber zur Hand.

Für einen Moment sieht es so aus, als wollte er sich diese Idee gleich mal notieren. Dann legt er den Stift wieder zur Seite.

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