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© KEYSTONE

Nikolai Walujew: Ganzer Kerl, halber Boxer

Nikolai Walujew ist in Russland unpopulär. Sein heutiger WM-Kampf interessiert kaum jemanden.

An Samstagabenden wird im russischen Staatsfernsehen zwei Stunden Schlittschuh gelaufen. „Eiszeit“ heißt die Sendung, bei der Profis und Prominente Paare bilden und von einer Jury bewertet werden. So hat es das breite Publikum am liebsten: etwas Sport, aber nicht zu viel, serviert im Unterhaltungsformat. Auch das Boxen hatte seine höchsten Einschaltquoten, als sich vor zwei Jahren bei „König des Rings“ prominente Zirkuskünstler, Sänger und Schauspieler als Faustkämpfer versuchten. Nikolai Walujews WM-Kampf in Nürnberg gegen den Briten David Haye (22.15 Uhr, live in der ARD) findet heute Abend im Free-TV nicht statt. Das Fernsehen scheint der Attraktivität des Boxens und des Riesen aus St. Petersburg nicht zu trauen.

Die Skepsis ist begründet, meint Wladimir Gendlin jr., ein ehemaliger Boxer und heutiger Kommentator beim Pay-TV-Sender NTW plus: „Russland könnte einen Sympathieträger gut gebrauchen, der hart zuschlagen, aber auch fürs Auge boxen kann und die Massen begeistert.“ Walujew sei kein Boxer von allerhöchster Klasse, aber er besitzt auch nicht die entsprechende Persönlichkeit, sagt Gendlin jr., „man kann nicht sagen, dass er in Russland sonderlich populär wäre“.

Die beliebtesten Sportarten in Russland sind Fußball und Eishockey, dann kommt lange nichts. Die Kinderzimmer sind mit Postern von Arsenal-Star Andrej Arschawin und NHL-Profi Alexander Owetschkin tapeziert. Dabei könnte das Boxen zumindest vom traditionellen Rollenverständnis profitieren, das es gern sieht, wenn „echte Männer“ notfalls auch zuschlagen können. Der Nachwuchs bringt durchaus talentierte Sportler hervor. Im September gewann Russland bei der Amateur-Box-WM überlegen die Mannschaftswertung. Doch der letzte Profi-WM-Kampf in Moskau liegt schon mehr als zwei Jahre zurück. Im Boxgeschäft ist Russland ein Rohstofflieferant.

Walujew, sagt Gendlin jr., sei im Grunde „nicht auf den Kopf gefallen“. Letztes Jahr spielte er eine viel beachtete Hauptrolle im Spielfilm „Kamennaja Baschka“, zu deutsch „Steinschädel“. Manchmal singt er auch oder ist das Gesicht einer Werbekampagne, mit der ein Kommunalbetrieb seine Kunden dazu anhält, lieber pünktlich die Miete zu zahlen – sonst kommt der Weltmeister vorbei. Das entbehrt nicht eines gewissen Humors.

Meist jedoch wird Walujew eher mit roher Gewalt assoziiert, auch außerhalb des Rings. Zwar beschreiben Kenner den 2,13-Meter-Hünen als ruhig und besonnen, doch weil er Anfang 2006 gegen den Wachmann einer St. Petersburger Sporthalle handgreiflich geworden sein und ihm drei Rippen gebrochen haben soll, wird nun schlagzeilenträchtig ein Verfahren neu aufgerollt, bei dem er in erster Instanz zu umgerechnet 7000 Euro Geldbuße verurteilt worden war. Jetzt droht ihm schlimmstenfalls eine Haftstrafe.

Dem russischen Boxen geht es so ein bisschen wie dem deutschen Tennis: Es fehlt an Nachfolgern für die Publikumslieblinge von gestern. Deren letztes Exemplar hieß Kostya Tzsyu, Ex-Weltmeister im Weltergewicht und seit 2005 nicht mehr aktiv. Er war aber nur ein halber Russe, weil er in Australien lebte. Dafür, findet man in Russland, ist Nikolai Walujew nur ein halber Boxer.

Tino Künzel[Moskau]

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