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Nizzas Trainer Lucien Favre machte sich in der Bundesliga unter anderem bei Mönchengladbach einen Namen.

© Reuters/Pascal Rossignol

Nizza-Trainer Lucien Favre im Interview: "Ich gönne den Engländern das viele Geld, aber der Fußball kommt zu kurz"

Lucien Favre kann mit OGC Nizza die Sensation schaffen: Sein Verein ringt mit den Großen der französischen Liga um europäische Plätze. Kein Verständnis hat Favre für die Prioritäten der englischen Premier League.

Bonjour, Monsieur Favre, wie geht es Mario Balotelli?

Ich denke doch, dass es ihm gut geht, am Freitag hat er bei unserem 2:1-Sieg in Lille beide Tore geschossen. Mario ist ein netter Kerl, ich komme gut mit ihm zurecht.

Balotelli hat in den vergangenen Jahren vor allem mit seinen Eskapaden von sich reden gemacht und galt als nicht mehr vermittelbar. Bei Ihnen in Nizza hat er in 19 Spielen 13 Tore geschossen. Die französische Presse feiert Sie als den ersten Trainer, der es geschafft hat, Balotelli zu zähmen. Koryphäen wie José Mourinho, Roberto Mancini oder Jürgen Klopp sind daran gescheitert.

Sie müssen unterscheiden zwischen dem Mensch Balotelli und dem Stürmer Balotelli. Als Mensch verhält er sich vorbildlich, aber was ihn als Stürmer betrifft, urteile ich wahrscheinlich nicht viel anders als die Kollegen, die Sie eben aufgezählt haben. Natürlich helfen uns seine Tore weiter, und in den vergangenen Spielen hat Mario sehr gut gespielt. Aber es gab hier in Nizza auch andere Phasen. Mario weiß selbst am besten, wo seine Defizite liegen. Er läuft zu wenig und nicht immer richtig. Mario muss mehr arbeiten, wenn er sich auf Dauer den Respekt seiner Kollegen verdienen will. Nur Tore schießen – das reicht im modernen Fußball nicht.

Dank Balotellis Toren spielen Sie mit Monaco und Paris Saint-Germain immer noch um die Meisterschaft und haben eine realistische Chance, die Qualifikation für die Champions League zu schaffen.

Ja, und das ist ein Wunder! Alle Mannschaften um uns herum investieren gewaltig. Marseille hat im Winter Dimitri Payet geholt und Lyon Memphis Depay, das sind zwei Weltklassespieler! Lille konnte zur Rückrunde gleich sechs neue Spieler für insgesamt 20 Millionen Euro holen. Und wir? Waren Herbstmeister und haben keinen einzigen neuen Spieler dazu bekommen. Wir haben neben Balotelli und unserem Abwehrchef Dante einen Haufen junger Leute und gerade zwei Nationalspieler: Younès Belhanda aus Marokko und Jean Michael Seri von der Elfenbeinküste. Trotzdem spielen wir weiter vor Marseille, Lyon und Lille ganz oben mit. Deswegen wäre die Qualifikation für die Champions League ein Wunder, und ich tue alles dafür, damit es wahr wird! Es gibt nichts Größeres als die Champions League, auch nicht die Weltmeisterschaft.

Was sagt uns die Champions League über den europäischen Fußball?

Sehr viel! Es ist ja kein Zufall, dass Spanien im Viertelfinale mal wieder mit drei Vereinen dabei ist. Die Primera Division ist zwar nicht besonders spannend, weil sich im Normalfall Barça oder Real beim Gewinn der Meisterschaft abwechseln. Aber sie ist und bleibt die beste Liga der Welt. Spanische Klubs gewinnen seit drei Jahren sämtliche europäische Wettbewerbe, und wissen Sie, warum? Das liegt nicht an der Nachwuchsarbeit, die ist jenseits von Barcelona und Madrid gar nicht so großartig. Aber die Spanier machen verdammt gute Transfers! Sie achten nicht nur auf Technik und Athletik, sondern auch auf Spielverständnis und taktische Intelligenz. Das konnte man sehr gut im letzten Europa-League-Finale sehen …

… das der FC Sevilla ohne größere Probleme gegen den FC Liverpool gewann. England ging mal wieder leer aus. Auch in diesem Jahr ist die teuerste Liga der Welt in beiden Wettbewerben nur noch mit je einem Klub vertreten.

Ich ziehe den Hut vor Leicester City, aber ich glaube nicht, dass es in der Champions League gegen Atletico Madrid reichen wird. Mit N’Golo Kantés Wechsel zu Chelsea hat diese Mannschaft ihr Herz verloren. Was sagt uns das über eine Liga, deren Meister total zusammenbricht, weil ein einziger Spieler geht? Manchester United ist in der Europa League gegen Anderlecht Favorit, aber ich kann nicht sagen, dass mich die Mannschaft überzeugt. Da steckt viel Geld drin, aber es kommt wenig dabei heraus. Das ist keine Kritik an José Mourinho, die Probleme liegen woanders.

Wo denn?

Die Prioritäten in der Premier League sind doch sehr fragwürdig. Die Klubs spielen alle paar Tage irgendwelche Pokalwettbewerbe aus, es bleibt kaum Zeit für Regeneration und für ein richtiges Training, alles wird dem Fernsehvertrag untergeordnet. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Fußball nur eine Nebenrolle spielt. Wenn ich mir englische Ligaspiele ansehe, frage ich mich: Was machen die da eigentlich, also taktisch gesehen? Ich gönne den Engländern das viele Geld, aber der Fußball kommt zu kurz. Schauen Sie sich an, was international passiert: Tottenham ist in der Premier League Zweiter und scheitert in der Europa League an Gent! Manchester City reist in der Champions League mit zwei Toren Vorsprung nach Monaco und fliegt noch raus. Und Arsenal hat gegen den FC Bayern nicht den Hauch einer Chance.

Sie sind gut mit Arsenals Langzeittrainer Arsène Wenger befreundet. Wird er diese Saison sportlich überleben?

Das entscheidet ganz allein er. Arsènes Verdienste sind zu groß, als dass er sich Sorgen machen müsste. Aber wenn er bleibt, steht er vor einer gigantischen Aufgabe. Er muss eine komplett neue Mannschaft aufbauen. Von der jetzigen genügen nur Laurent Koscielny und Granit Xhaka den Ansprüchen, die ein Klub wie Arsenal haben sollte.

Kein Özil, kein Sanchez, kein Walcott?

Kein Özil, kein Sanchez, kein Walcott.

Wer gewinnt in diesem Jahr die Champions League?

Fragen Sie mich das doch bitte noch mal in zehn Tagen. Sagen wir mal so: Ich glaube, wenn die Bayern das Viertelfinale gegen Real Madrid überstehen, dann haben sie eine realistische Chance.

In der Bundesliga haben die Bayern vor dem 4:1 am Samstag gegen Dortmund nicht immer überzeugt.

Überrascht Sie das? Mich nicht. Es ist doch in der Bundesliga so wie immer in den vergangenen Jahren: Ab März ist die Saison entschieden, der FC Bayern steht als Meister so gut wie fest und hat nur noch die Champions League im Sinn. Das war so unter Pep Guardiola, das ist so unter Carlo Ancelotti. Er hat nach leichten Anlaufschwierigkeiten seinen Stil und Rhythmus gefunden. Boateng ist wieder fit, Martinez gefällt mir als Innenverteidiger sehr gut, und über die offensive Qualität der Bayern müssen wir nicht reden.

Neben den Bayern steht noch eine zweite deutsche Mannschaft im Viertelfinale. Was halten Sie von Borussia Dortmund?

Eine sehr gute Mannschaft! Pierre-Emerick Aubameyang ist immer für ein Tor gut, Ousmane Dembélé hat eine sensationelle erste Bundesligasaison gespielt und sich unter Thomas Tuchel sehr gut entwickelt. Mein Kompliment, das war ein hervorragender Transfer! Die machen das in Dortmund ohnehin sehr gut, auch an meinem früheren Gladbacher Schüler Mo Dahoud werden sie in der nächsten Saison ihre Freude haben. Wenn jetzt noch Marco Reus wieder fit wird und die Defensive an Stabilität gewinnt, darf man Dortmund in der Champions League nicht unterschätzen. Ich bin sehr gespannt auf das Viertelfinale gegen Monaco.

Sie kennen Monaco aus der Ligue 1. Was ist dieser Mannschaft zuzutrauen?

Schon einiges. Monaco hält Paris Saint-Germain in der Liga die ganze Saison über auf Distanz, hat seine Vorrunden-Gruppe in der Champions League gewonnen und im Achtelfinale Manchester City ausgeschaltet. Diese Mannschaft hat sportliche Klasse und sehr viel Selbstvertrauen.

Aber es hängt sehr viel am Kolumbianer Radamel Falcao, und der ist immer mal wieder verletzt. Wer weiß, ob er gegen Dortmund spielen kann.

Ja, Falcao ist ein außergewöhnlicher Spieler, er nähert sich wieder der Form, die er vor seinem Kreuzbandriss 2014 hatte. Er ist ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige. Monaco hat auch ohne ihn das Rückspiel gegen Manchester City gewonnen. Das war ein sehr wichtiger Erfolg für die französische Liga.

Erst recht, nachdem Paris Saint-Germain das Kunststück fertig gebracht hat, nach einem 4:0-Sieg im Hinspiel noch gegen den FC Barcelona rauszufliegen.

Da ist einiges zusammengekommen. Natürlich darfst du auf diesem Niveau nicht 1:6 verlieren und dabei in den letzten drei Minuten plus Nachspielzeit drei Gegentore kassieren. Aber, so viel Ehrlichkeit muss sein: Der Schiedsrichter …

… der Deutsche Deniz Aytekin …

… war eine Katastrophe! Schon der erste Elfmeter gegen PSG war sehr, sehr zweifelhaft, der zweite eine Unverschämtheit, und das in der Nachspielzeit. Jeder weiß doch, wie leicht Suarez im Strafraum fällt. Auf der anderen Seite muss man aber anerkennen, mit wie viel Begeisterung und Leidenschaft Barcelona dieses Spiel noch gedreht hat. Das können nur ganz wenige Mannschaften auf der Welt.

Ist Barça damit wieder einer der ganz großen Anwärter auf den Champions-League-Sieg?

Eine Mannschaft dieser Qualität gehört immer zu den Favoriten. Aber ich bin in dieser Saison nicht so überzeugt. Es ist sehr viel auf Improvisation und die individuelle Klasse von Messi, Neymar und Suarez ausgerichtet, darüber hinaus fehlt mir zu oft die taktische Linie. Real gefällt mir in dieser Saison besser. Schauen Sie sich Karim Benzema an, er spielt zurzeit auf einem sensationellen Niveau. Es ist mir unerklärlich, warum die französische Nationalmannschaft immer noch auf ihn verzichtet.

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