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Oliver Bierhoff, 47, ist seit 2004 Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Der frühere Spieler des AC Mailand und Kapitän der DFB-Auswahl ist Präsidiums-Mitglied und für das neue Großprojekt, die Fußball-Akademie, verantwortlich.

© Reuters/Hanschke

Oliver Bierhoff im Interview: „Die Großen kriegen mehr - das ist leider so“

Oliver Bierhoff spricht über den Terror, das EM-Quartier in Evian, den neuen Ausrüstervertrag - und warum, ihm beim Campo Bahia immer noch ein bisschen die Düse geht.

Herr Bierhoff, die Nationalelf hat im November die Anschläge in Paris hautnah miterlebt, das Länderspiel in Hannover musste abgesagt werden, und auch in den vergangenen Tagen war der Terror wieder sehr präsent. Wie steht es um das Innenleben des Teams?

Die Spieler sind sehr unterschiedlich mit diesen Ereignissen umgegangen. Das ist eben eine sehr persönliche Angelegenheit, bei der jeder seinen eigenen Weg finden muss. Aktuell, trotz der Anschläge in Brüssel, habe ich nicht das Gefühl, dass das in der Mannschaft ein großes Thema ist. Das Problem ist, dass wir zuletzt wenig zusammen gewesen sind. Umso wichtiger wird die Zeit vor der EM sein, damit sich ein stabiles Gebilde entwickeln kann

Stimmt es, dass die Mannschaft im November nur sehr widerwillig gegen Holland antreten wollte?

Richtig ist, dass einige Spieler dabei waren, die nach den Anschlägen in Paris nicht sofort wieder spielen, sondern erst mal ein paar Tage Abstand wollten. Da mussten wir schon Gespräche führen, am Ende waren wir alle überzeugt, dass man ein Zeichen von der Mannschaft erwartet.

So wie die Taktikbesprechung zu einem Länderspiel gehört, könnte es künftig also auch noch ein Sicherheitsbriefing geben.

Die Anschläge in Brüssel haben das Thema zumindest wieder ins Bewusstsein zurückgeholt, nachdem schon wieder der Alltag eingekehrt war. Da kann sich niemand von freimachen, das gilt ja nicht nur für den Fußball. Wir müssen es in allen Lebensbereichen einfach annehmen, dass jederzeit wieder etwas passieren kann. Es ist gerade diese Unsicherheit, die den Menschen Angst macht, das Gefühl, dass man sich nirgendwo mehr sicher fühlen kann. Natürlich machen wir uns rund um die Mannschaft immer Gedanken, auch bei der Sicherheit werden angemessene Konzepte greifen. Aber man kann das auch nicht ausufern lassen.

Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?

Mit Sicherheitsfragen musste ich mich auch vorher schon beschäftigen, aber generell koordiniert das im DFB unser Sicherheitsbeauftragter Hendrik Große Lefert, zu dem wir Vertrauen haben. Ein weiterer Aspekt ist das Psychologische. Damals in Paris ist mir durch den Kopf gegangen: Könnte es nicht sein, dass gerade wir als Weltmeister eine Zielscheibe sind? Erst recht nach der Bombendrohung vom Vormittag. Auch deshalb sind wir nach dem Spiel nicht mehr in unser Hotel zurückgekehrt.

Inzwischen wird sogar darüber diskutiert, dass EM-Spiele ohne Fans stattfinden.

Darüber haben wir schon nach Paris diskutiert. Natürlich sind wir bedeutend, aber es gibt wichtigere Dinge im Leben. Das ist immer eine Abwägung: Wo kann oder muss man ein Zeichen setzen? Und wo sind möglicherweise Menschenleben in Gefahr? Andererseits können und wollen wir unser Leben nicht immer weiter einengen. Wir werden versuchen, uns bestens auf die EM vorzubereiten, wir dürfen uns auch die Freude nicht nehmen lassen, wohl wissend, dass niemand voraussagen kann, was während des Turniers passiert.

Welche Rolle wird dem EM-Quartier am Genfer See zukommen?

Ich glaube, die Mannschaft selbst wird keinen so großen Unterschied spüren. In Südafrika oder Brasilien hat das Thema Sicherheit ebenfalls eine große Rolle gespielt. Und wenn man noch weiter zurückdenkt: Von der WM 1978 zu Zeiten der Militärdiktatur in Argentinien hat man auch die Bilder von schwerbewaffneten Sicherheitskräften im Kopf. Wichtig ist die Nähe der Spieler untereinander, das entscheidet über den Teamgeist – nicht ob das Hotel drei, vier oder fünf Sterne hat.

Wie muss man sich die Entscheidungsfindung vorstellen?

Der erste Wunsch war: Licht, Sonne, ein bisschen Leichtigkeit. Also haben wir uns zunächst in Südfrankreich umgeschaut. Aber jeden Tag 20 Minuten irgendwelche Serpentinen fahren, ist bei einem Turnier auf Dauer nervig. Ich persönlich hätte mir Paris gut vorstellen können. Auch um ein Zeichen zu setzen: Wir sind der Weltmeister, und wir gehen dahin, wo wir auch im Finale spielen wollen. Paris wäre auch ein Kontrast zur Abgeschiedenheit im Campo Bahia bei der WM vor zwei Jahren gewesen. Aber in einem Schloss zu sitzen, mit alten Möbeln in barocken Zimmern – da sehe ich unsere Mannschaft nicht.

Was hat für Evian gesprochen?

Das Hotel ist sehr klein und kompakt. Wir haben kurze Wege zum Training. Einziger Nachteil ist die Fahrt zum Flughafen. Das ist schon ein Dilemma. Aber diese Kröte haben wir geschluckt, weil sonst alles passt. Der Blick auf den See, die Weite, die Energie, die man aufnimmt.

Dem Campo Bahia werden fast schon mystische Kräfte nachgesagt. Das Hotel in Evian ist vergleichsweise spröde. Welchen Geist hoffen Sie damit zu wecken?

Das Campo Bahia war einzigartig. Wir sind überglücklich über viele kleine Geschichten, die damals aufgegangen sind. Die Fahrt mit der Fähre zum Beispiel. Das war wie eine Auszeit. Nach den geschäftigen Spielen kommst du wieder in die Ruhe hinein, in die Entspannung. Das können wir gar nicht toppen. Deshalb war uns klar: Es muss einen totalen Bruch geben.

Besser geht’s nicht.

Aus heutiger Sicht ist das so, ja. Trotzdem geht mir auch im Nachhinein noch ein bisschen die Düse. Vier Tage vor unserem Abflug nach Brasilien hat der Bauleiter mich angerufen und gesagt: „Oliver, wir müssen über Plan B nachdenken.“ Es sah nicht so aus, als würde alles rechtzeitig fertig werden. Stellen Sie sich mal meine Situation vor: Eine WM in Brasilien ist für die Spieler etwas ganz Besonderes. Was ist, wenn ich das jetzt vergeige? Aber ein bisschen habe ich mir das Chaos sogar gewünscht. Ich habe immer gesagt: Hoffentlich fällt mal der Strom aus. Dann machen wir ein Lagerfeuer. Gerade daraus entsteht was.

Haben die Spieler das auch so gesehen?

Wir sind immer bestrebt, der Mannschaft perfekte Bedingungen zu schaffen. Aber man sollte sich von der Idee verabschieden, dass immer alles passen muss. Wir, die wir das Ganze organisieren, unterschätzen die Spieler in dieser Hinsicht viel zu sehr. In Brasilien hat keiner gemotzt. Obwohl bei Sami Khedira zweimal das Bad unter Wasser stand. Und als ich Manuel Neuer erzählt habe, dass das Campo vielleicht nicht rechtzeitig fertig wird, hat er gesagt: „Dann zelten wir eben. Wollte ich immer schon mal machen.“ Ich habe von Anfang an die Chance gesehen: Egal welches Hindernis sich auftut, wir gehen unseren Weg. Mir ist so eine Art Live-Show, in die du bewusst Fehler einbaust, viel lieber – weil sie menschlich ist.

Aber der Nationalmannschaft wird immer nachgesagt, dass alles schon zu perfekt ist.

Das ist zum Teil ein Märchen, auch wenn unser Standard enorm hoch ist. Aber wir haben auch festgestellt, dass die Spieler das gar nicht brauchen. Das Büffet zum Beispiel war zu meiner Zeit viel größer. Eigentlich sind die Spieler sogar dankbar dafür, wenn nicht immer alles da ist. Ich habe schon 2008 gesagt: „Wir brauchen nicht ständig jemanden, der uns den Kaffee bringt.“ Wenn du acht Wochen im Hotel wohnst, bist du doch froh, wenn du mal aufstehen, zur Kaffeemaschine gehen und dir selbst einen Kaffee holen kannst. Du fühlst dich viel mehr wie zu Hause. Ich wollte sogar so weit gehen, dass im Campo Bahia keine Betten gemacht werden. Aber davon hat man mir abgeraten.

Wahrscheinlich erwarten die Spieler in Evian jetzt aber auch was Besonderes?

Kann sein. Aber man muss aufpassen, dass es nicht so gewollt, so entertainmäßig rüberkommt. Gewisse Dinge kann man unterstützen. Aber dafür muss auch die Gruppe stimmen. Wenn du Begegnungen schaffst, hat das schon einen Mehrwert.

Was würden Sie aus dem Campo Bahia gerne nach Evian transferieren?

Das enge Miteinander. Hansi Flick hat mal zu mir gesagt: „Guck mal, Oliver. So haben wir es uns erträumt.“ Da hat Jerome Boateng mit seinen Kindern im Pool getobt, Joachim Löw mit Philipp Lahm diskutiert, Per Mertesacker saß in der Eistonne, und alle waren da. Du bist immer jemandem über den Weg gelaufen, und trotzdem gab es Orte, an denen du deine Ruhe finden konntest. Wenn ich in den vergangenen Tagen in Berlin in unserem Hotel einen Spieler sprechen wollte, musste ich ja schon fast einen Termin mit ihm vereinbaren.

Zimmer mit Aussicht. Das EM-Quartier der Nationalelf in Evian.
Zimmer mit Aussicht. Das EM-Quartier der Nationalelf in Evian.

© Imago/PanoramiC

Bei der EM wird die Mannschaft wie gehabt in Adidas spielen. 2018 endet der Ausrüstervertrag. Könnte bei der WM in Russland schon Nike zum Zuge kommen?

Vor zehn Tagen haben Adidas und Nike dem DFB-Präsidium ihre Konzepte präsentiert. Beide haben sich sehr viel Mühe gegeben. Für mich war vieles nicht überraschend, aber man merkt schon, dass der neue DFB ein wichtiges, großes Asset ist. Was mich gefreut hat: Beide haben unsere Akademie sehr stark aufgegriffen. Unsere Ideen, wie der Fußball sich entwickeln soll, treffen auf sehr viel Zustimmung.

Es geht beim neuen Vertrag um zehn Jahre?

Das muss noch final entschieden werden.

Ist die Nationalelf für die Ausrüster trotz freier Schuhwahl noch so wichtig?

Drei Millionen verkaufte Trikots bei der WM … Und man sieht das ja bei den Spielern, bei den Vereinen und leider Gottes auch ein bisschen in der Gesellschaft – die Tendenz ist: Die Großen kriegen mehr, und die Kleinen fallen hinten runter.

Das Gespräch führten Stefan Hermanns und Michael Rosentritt.

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