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Sport: Olympia 2000: Am Anfang war das Feuer

Es sollte die größte Show werden, die die Welt je gesehen hat. So will Sydney 2000 sein: gigantisch, bunt und stolz.

Es sollte die größte Show werden, die die Welt je gesehen hat. So will Sydney 2000 sein: gigantisch, bunt und stolz. Doch die Eröffnung der Olympischen Spiele war noch mehr. Sie war eine Geste der Versöhnung, rührend und sogar lustig.

Wir haben Bradley Hore gesucht im australischen Team, beim Einmarsch der Nationen. Bradley hätte auffallen müssen mit seinen strohblonden Haaren und seinen hängenden Schultern. Bestimmt hängen seine Schultern, denn Bradley Hore hat die erste traurige Geschichte dieser Olympischen Spiele zu erzählen.

Neun Jahre lang träumte Bradley davon, einmal als Boxer bei Olympia antreten zu können; neun Jahre war er alt, als sein Traum begann. Also hat er trainiert, eisern und verbissen; und auch dass er zu Beginn seiner Laufbahn mit Ausnahme eines Kampfes seine ersten zehn Fights verlor, warf ihn nicht aus der Bahn. Bradley wurde besser und besser, kündigte im vergangenen Jahr seine Schlosserlehre, um sich ganz auf Olympia zu konzentrieren. Im Mai wurde er erst australischer Meister, dann Champion Ozeaniens. Bradley Hore war am Ziel, er wurde für Olympia 2000 in Sydney nominiert. Sein Körper legte noch einen Wachstumsendspurt ein, das brachte ihm noch einmal fünf Zentimeter ein. Gut für die Reichweite. Schlecht fürs Gewicht.

Am Donnerstag stand in Sydney das Auswiegen der Kämpfer auf dem Programm. Bradley ist Halb-Fliegengewichtler, die dürfen 48 Kilo wiegen und kein Gramm mehr. Am Dienstag zuvor merkte Bradley, dass er 50 Kilo wog, wahrscheinlich Folge seiner neuen Körpergröße. Gott ja, dachte er, schwankendes Gewicht, das haben Boxer schon mal. Ein paar harte Trainingseinheiten werden das Übergewicht schon wegbrennen. Bradley rannte, verhaute Schatten, ging in die Sauna. Am Abend hatte er 500 Gramm geschafft. Am Mittwoch hockte er zwei Stunden lang in der Schwitzbude, am Donnerstag in der Früh fünf Stunden, was nicht einmal für einen Finnen ein Vergnügen ist, geschweige denn für einen sonnenverwöhnten Australier. Als Bradley Hore auf die Waage ging, wusste er, dass er verloren hatte: 49 Kilo, nicht zugelassen zum olympischen Wettkampf. "Wir waren kurz davor, ihm das linke Bein abzunehmen", sagte sein Trainer, aber das hätte es ja auch nicht gebracht.

Bradleys Vater hat jetzt wieder das Rauchen angefangen, nach 18 Monaten. Wenigstens ist er nicht böse: "Wir werden Bradley weiter lieben. Und außerdem: In zwei Jahren sind ja wieder Commonwealth-Spiele." Wir haben Bradley nicht ausmachen können inmitten der fröhlichen Australier. Vielleicht war er auch nicht dabei.

Stolz in jeder Ziffer

Nun haben die 27. Olympischen Spiele begonnen, mit der Eröffnungsfeier im Stadium Australia, mit 110 000 Zuschauern im Oval und vier Milliarden vor den Fernsehern rund um die Welt. Mit 12 600 Teilnehmern an der Zeremonie, 15 000 Kostümen und 4600 Helfern hinter der Bühne, mit 11 600 Athleten und Offiziellen aus 200 Nationen, mit 111 169 Metern Kabel und 99 Tonnen Licht- und Strommaterial. Diese Zahlen stammen aus einem Handbuch, und darin steht auch, dass alleine die Elektrik 22 Laster füllt, wovon jeder einzelne zwölf Meter lang ist. Der Stolz der Sydneysider, die größte Show auszurichten, die die Welt je gesehen hat, ist aus jeder Ziffer herauszulesen.

In den nächsten 16 Tagen werden also in 28 Sportarten an 41 verschiedenen Plätzen 257 Wettkämpfe stattfinden. Das heißt, ein paar weniger sind es schon. Die Fußballerinnen haben schon angefangen, die Australier haben dabei ihre Mannschaft in Canberra mit dem Schlachtruf "Aussie! Aussie! Oink! Oink! Oink!!" angefeuert. Es nützte aber nichts, sie verlor trotzdem 0 : 3 gegen die deutsche Mannschaft. Oink, Oink, Oink, es wird also auch lustig zugehen in Sydney.

Und wenn man denn sagt, dass Olympia wie das Leben selbst ist, dann werden diese Tage wieder viele Geschichten gebären. Traurige, wie die von Bradley, und tragische, wie die von Hyginus Anayo Anugo, dem Leichtathleten aus Nigeria und seiner Freundin Gloria Alozie. Hygins wurde in der vergangenen Woche beim Training von einem Auto erfasst, er hatte beim Überqueren der Straße den australischen Linksverkehr vergessen. Hyginis Anayo Anugo war sofort tot. Gloria Alozie, Weltmeisterschaftszweite über 100 Meter Hürden, ist noch unschlüssig, ob sie trotzdem bei Olympia starten soll.

Und wie im Leben wird es zutiefst rührende Geschichten geben, sehr schöne, sehr hässliche Geschichten. Die bösen vom Doping und den korrupten Olympiaführern wurden schon vorher erzählt und müssen weiter erzählt werden. Und natürlich wird man auch unter "Waltzing Matilda" leiden, jener bittersüßen Ballade eines Schafscherers, die in Australien als zweite Nationalhymne bis zu zwanzig Mal am Tag zu hören ist. Beim Aufwärmprogramm zur Eröffnungsfeier brachte es schon mal der recht getragene Folk-Sänger John Williamson zum Vortrag.

Während dieses Präludiums hat John Lennon sein "Imagine" von einer besseren Welt gesungen. Von einer Leinwand runter und auf Video natürlich. Dass sie den 1980 ermordeten Lennon nicht auch noch leibhaftig auf die Bühne gebracht haben, ist so ziemlich das Einzige, was die Impresarios der Feier nicht geschafft haben. Eine 13-Jährige zu überzeugen, in 32 Metern Höhe nur an zwei Strippen hängend durch die Luft zu schwimmen, muss alleine schon eine herkulische Aufgabe gewesen sein, es dürfte in der Gesamtinszenierung des Abends die kleinste gewesen sein.

Bitten um Versöhnung

Zusammen mit ein paar Akrobaten schwirrte Nikki Webster, so heißt der australische Kinderstar, also durch ein fiktives Meer, was wohl Australiens innige Liebe zu Wasser symbolisierte und ein sehr farbiges und recht hübsches und leicht kitschiges Bild abgab. Vor allem war es, wie vermeldet wurde, die größte Aufführung in der Luft, die es je gegeben hat. Größer, gigantischer, stolzer, das war das Leitmotiv des Abends.

Aber Nikkis Luftpaddeln war nur das Vorspiel zu einer viel spannenderen, weitaus beeindruckenderen und einer womöglich politisch weitreichenden Vorführung, in der zumindest die Organisatoren ein wenig Versöhnung mit der Vergangenheit und vor allem von den Aborigines erbaten. In zum Teil sehr intensiven Bildern wurde die Geschichte Australiens dargestellt. Und dass diese Geschichte am Freitagabend im Stadium Australia tatsächlich von Anfang an erzählt wurde, dass sie mit der Traumwelt der Ureinwohner des Kontinents und deren Vorstellung von der Entstehung der Welt begann, das ist dann vielleicht doch mehr als nur folkloristisches Geplänkel gewesen. Zumindest ist es ein Zeichen, und wenn das zu Beginn einer Art Weltausstellung gesetzt wird, dann könnte das wenigstens der Anfang einer weiteren sehr schönen Geschichte sein.

Stelzengänger und Feuerschlucker führten die Entstehung der Welt vor, wie sie sich die Aborigines ausmalen, die Nutzung des Feuers und das Verhältnis der Aborigines zur Natur. Erst in der siebten Abteilung kamen mit der Anlandung von Captain James Cook die Weißen ins Spiel. Von diesem Moment an wurde vielleicht ein wenig dick aufgetragen, aber dass sich Australien inzwischen zur tatsächlichen Geschichte seines Kontinents bekennt, ist recht neu. Bislang wurden die Aborigines lieber verleugnet, wurde der historische Umgang der Australier mit ihnen vergessen.

Und als gegen Ende der Show Djakapurra, der Aborigine-Führer, und die kleine Nikki gemeinsam auf einer Plattform standen, als im Hintergrund an einem Modell der Harbour-Bridge, Sydneys berühmtem Wahrzeichen, das Wort "Eternity" aufleuchtete, da kippte zwar dieses Bild leicht in Hollywood-Rührseligkeit, aber das konnte den Gesamteindruck einer grandiosen und spektakulären Show nicht mehr zerstören.

Als die Geschichte Australiens erzählt war, demonstrierten die Macher, was ihnen sonst noch am Herzen lag: Wir können alles. Wir können auch eine Band aus 2000 Menschen ohne Disharmonie den Zarathustra, die Ode an die Freude und, natürlich, "Waltzing Matilda" spielen und nebenbei die Musiker das Logo der Spiele bilden lassen. 2000 Menschen - gute Güte, Gotthilf Fischer sollte vielleicht seinen Hut nehmen. Und die Choreographen in Athen, wo in vier Jahren die Spiele stattfinden werden, sollten schon heute anfangen nachzudenken, wie sie dann einem Vergleich mit diesem Ereignis standhalten können.

Inzwischen ist auch die Sorge gewichen, dass die Menschen in Australien die Spiele nicht annehmen würden. Am Donnerstag waren noch 1,6 Millionen Tickets im Handel. Doch am Nachmittag gab es schon die ersten Prügeleien in den Warteschlangen, das Organisationskomitee hat ausgerechnet, dass in Syney mindestens der Zuschauerrekord der Spiele von Atlanta, wo 7,5 Millionen Tickets verkauft worden waren, erreicht werden wird.

Die Olympischen Spiele sind eröffnet, und als der letzte Fanfarenstoß der gigantischen Band verklungen ist, als die Athleten einmarschieren, da ist wieder Zeit für die olympischen Geschichten. Zum Beispiel für die rührenden, wie die von Cliff Meindl, einem 34-jährigen Kanuten. Meindl hatte, als er 20 war und Installations-Lehrling, einen 30 000-Volt-Stromschlag überlebt. Beide Knie wurden zerschmettert, erst nach zwei Jahren konnte er wieder Gehversuche unternehmen, gestern nun trug er die Fahne der USA ins Stadion.

Zeit auch für die exotischen Geschichten von Inseln, die kaum einer kennt und die alle vier Jahre mal die Gelegenheit haben, ihre Existenz zu beweisen. Nationen wie Myanmar, Sao Tome and Principe, Palau oder Nauru, im Fernsehen!

Ebenfalls zu erzählen wären die Mode-Storys. Eine von den Italienern zum Beispiel, die in kunterbunten Hosen einliefen, was sehr lustig aussah. Oder die von Birgit Fischer, der deutschen Kanutin und Fahnenträgerin - doch nein, von ihrem Komposthütchen und denen der deutschen Frauen schweigt man lieber. Vielleicht könnte der Designer mit Gotthilf Fischer ...?

Oder eine versöhnliche Geschichte? Eine, die zeigt, dass von Olympia trotz aller Geldschneiderei, trotz aller Künstlichkeit, trotz Korruption und Dopingbetrugs immer noch eine starke Symbolkraft ausgeht? Als man im Alphabet bei K angekommen war, geschah es, dass die Menge sich erhob und den einmarschierenden Sportlern von Korea zujubelte. Nicht getrennt in Süd- und Nord-Korea, wie es die verfeindeten Staaten vielleicht vorschreiben würden, sondern vereint.

Eine verlogene Geschichte

Und natürlich darf bei Olympia eine verlogene Geschichte nicht fehlen. Sie wird alle vier Jahre zum Ende der Eröffnungszeremonie vorgeführt und heißt Olympischer Eid. Eine junge Dame sprach ihn diesmal: "Im Namen aller Wettkämpfer verspreche ich, dass wir an diesen Olympischen Spielen teilnehmen werden, ihre Gesetze respektieren werden, dass wir uns bekennen zu einem Sport ohne Doping und Drogen im wahren Geist der Sportlichkeit, für die Ehre des Sports und den Ruhm der Teams." Es bog sich kein Balken.

Der Abend fand aber am Ende einen stimmigen Abschluss. Seit Monaten hat man in Australien darüber diskutiert, ob der Aborigine Cathy Freeman nicht die Ehre gebühren sollte, als Schlussläuferin der Fackelstaffel das Feuer im Stadion zu entzünden. Die Lager waren gespalten. Die Aborigines setzten sich vehement für ihre Heldin ein, während die australischen Sportfunktionäre ihr sogar verweigern wollten, dass sie im Falle ihres Olympiasieges nicht nur die australische, sondern auch die Fahne der Ureinwohner bei der Ehrenrunde schwenken darf. Es kamen also die letzten sechs Staffelläuferinnen ins Stadion, sie alle hatten in der olympischen Geschichte für sich und Australien Ruhm und Gold erworben. Als Vorletzte übernahm Dawn Fraser, die Schwimmerin, den brennenden Aluminiumstab, und sie lief 100 Meter bis zur Treppe, die zur Feuerschale führt. Dort wartete Cathy Freeman, sichtlich bewegt, und die Zuschauer kreischten vor Begeisterung.

Olympia kann beginnen. Schade nur, dass Bradley nicht dabei sein kann.

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