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China

© AFP

Olympia 2008: Olympische Disziplin

Drängeln, spucken, fluchen verboten! Wie Peking seine Bürger für die Sommerspiele 2008 erziehen will.

John Newby sucht in der Pekinger U-Bahn-Linie 1 nach einer stabilen Position. Breitbeinig stellt sich der Amerikaner in den Mittelgang, mit der linken Hand umklammert er eine Halteschlaufe. Mit seinem Körper versucht John Newby, seine 72-jährige Mutter zu beschützen. Es hilft nichts. Sie erleben eine Familienzusammenführung der unerwünschten Art.

Unaufhörlich drängen Menschen in die U-Bahn und pressen John Newby an seine Mutter. Sie ringt nach Luft. Weitere Fahrgäste rücken nach, eine Sicherheitskraft stopft schließlich einen überstehenden Aktenkoffer in den U-Bahn- Wagen, damit sich die Türen schließen können. „In der New Yorker U-Bahn wird auch gedrängelt“, hatte John Newbys Mutter gesagt – doch das war, bevor sie eingestiegen ist. Nun ändert sie ihre Meinung. „Das gäbe es in New York nicht“, sagt sie mühsam, „die Menschen würden die nächste Bahn nehmen.“ Den Tag des Schlangestehens hat sie sich anders vorgestellt.

Eigentlich soll am Tag des Schlangestehens gerade nicht gedrängelt werden. Er findet in Peking seit Februar an jedem 11. Tag im Monat statt, das Datum hat das neu gegründete „Zivilisierungsbüro“ mit Bedacht gewählt: Die Einser symbolisieren zwei hintereinander stehende Menschen. Die Bevölkerung soll an diesem Tag üben, sich in U-Bahn-Stationen, an Bushaltestellen oder Einkaufszentren hintereinander anzustellen. Und nicht, wie oft im bevölkerungsreichsten Land der Erde, einen Menschenhaufen zu bilden, der Eingänge oder Schalter umlagert.

Der Tag des Schlangestehens zählt zu einer Reihe von Erziehungsmaßnahmen, die Peking vor den Olympischen Spielen ergriffen hat. Wenn die Spiele am 8. August 2008 eröffnet werden, will sich die Stadt den rund 550 000 ausländischen Besuchern und 30 000 Journalisten von ihrer besten Seite präsentieren. Dafür wird überall abgerissen und aufgebaut, doch ein Problem lässt sich nicht so einfach mit der Abrissbirne erledigen. „Es mangelt der Bevölkerung an zivilisiertem Verhalten“, hat Liu Qi, Pekings Olympia-Organisationschef, festgestellt. „Jeder Bürger sollte sich hässliche Gewohnheiten abgewöhnen.“

So sollen die Sportfans nicht mehr ihre Gegner mit dem nicht druckreifen „Pekinger Fluch“ beschimpfen, einer Verunglimpfung des weiblichen Schambereichs. Die Olympia-Organisatoren haben Lautsprecher in die Stadien montiert, um bei Bedarf solche Gesänge zu übertönen. Auch sollen die 15 Millionen Menschen in der chinesischen Hauptstadt bis zum nächsten Jahr lernen, auf Rolltreppen rechts zu stehen, an roten Ampeln anzuhalten und den Müll nicht auf die Straße zu schmeißen. Und vor allem sollen sie sich das Spucken abgewöhnen.

Das Spucken ist in China so weit verbreitet, dass Spötter das Geräusch, das beim Hochziehen des Speichels in den Mund entsteht, als Chinas heimliche Nationalhymne bezeichnen. Bei Olympia soll sie nicht erklingen, zumindest nicht in Peking. Dort droht nun jedem ertappten Spucker eine Strafe von 50 Yuan, umgerechnet fünf Euro. Der staatlich kontrollierte Fernsehsender CCTV zeigt reuige Sünder, die ihre feuchte Hinterlassenschaft mit Papiertaschentüchern von der Straße aufwischen müssen. Diese Bilder zählen eher zur Erziehungsmaßnahme, tatsächlich interessiert sich auf Pekings Straßen nur selten ein Polizist für einen der zahlreichen Spucker.

Mechthild Leutner kennt den Kampf gegen das Spucken. „Seit den 80er Jahren erklärt man in China der Bevölkerung, dass das Spucken unhygienisch ist“, sagt die Professorin für Sinologie an der Freien Universität Berlin. Viele Menschen im Land der Mitte hatten geglaubt, das Spucken reinige den Körper von schadhaften Flüssigkeiten. Doch die Chinesen seien kein unerzogenes Volk, sie seien nur später dran, erklärt Mechthild Leutner: „Der Prozess der Zivilisation hat in Europa mehrere Jahrhunderte gedauert.“ Nun laufe diese Entwicklung auch in China ab. „Dort gibt es auf dem Land eine Agrargesellschaft, die hunderte Jahre alt ist, gleichzeitig schreitet die Entwicklung in den Städten rasant voran“, sagt die Sinologieprofessorin. In den Städten treffen die ländlichen Wanderarbeiter auf die Moderne – und ihre neuen Sitten. „In Peking spielt sich ein zivilisatorischer Prozess ab, der vor hundert Jahren auch in Berlin stattgefunden hat“, sagt Mechthild Leutner, „die Olympischen Spiele beschleunigen diese Entwicklung.“

Am Tag des Schlangestehens bilden sich um kurz nach 17 Uhr in der U-BahnStation Jianguomen Wartereihen, die auch einer Londoner Bushaltestelle zur Ehre gereichen würden. Ein Dutzend weißuniformierter Frauen ruft unaufhörlich Anweisungen in die Megafone. Wer nicht auf sie hört, wird von Sicherheitskräften auf die an der Bahnsteigkante aufgemalten weißen Linien hingewiesen, an denen man sich anzustellen hat. „Die Menschen lernen es langsam“, sagt Liu Xuen, 34. Der Computerfachmann wartet brav am Ende einer Reihe, er findet die Einführung des Schlangestehen-Tages gut. „Das ist die Zivilisation“, sagt er. Sie endet allerdings, sobald die U-Bahn einfährt. Innerhalb weniger Sekunden verwandelt sich die Reihe in einen Haufen. Noch bevor der erste Fahrgast aussteigen kann, drücken sich drei Menschen an den Seiten in die U-Bahn hinein.

Die Pekinger Renmin-Universität hat die Zivilisierungsmaßnahmen wissenschaftlich begleitet. Dazu hat sie 10 000 Menschen befragt und das Verhalten von 200 000 Menschen an öffentlichen Orten analysiert. Ergebnis: Der Grad des guten Benehmens ist innerhalb eines Jahres von 65,21 auf 69,06 Prozent gestiegen. Doch nicht jeder traut diesen Zahlen.

Li Nicole, 23, fährt am Tag des Schlangestehens mit der U-Bahn in Richtung Dongzhimen nach Hause. Die Anglistikstudentin findet, dass Pekings Bevölkerung zivilisierteres Benehmen gut gebrauchen kann, allerdings begegnet sie den neuen Erziehungsmaßnahmen skeptisch. „Es wird nicht klappen“, glaubt Li Nicole, „wir sind einfach zu viele.“ Die Stadt aber sieht das anders. Am kommenden Samstag wird wieder geübt.

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