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Beim Beachvolleyball pulsieren die Spiele. Doch an anderen Orten läuft der Alltag wie immer weiter - mit Drogen, Gewalt und Korruption.

© dpa

Olympia 2016 in Rio: Die Kehrseite der Medaillen

Nach außen präsentiert sich Rio de Janeiro zu den Olympischen Spielen als Sehnsuchtsort. Aber die Realität hat noch eine andere Seite, die sich nicht verstecken lässt.

Der Regen ist nach Rio gekommen. Mit 17 Grad und Windböen. Der Christus, in dichte Wolken gehüllt. Die Copacabana, verwaist. Damit ist Rio auch in meteorologischer Hinsicht ehrlich. Wer glaubte, dass hier nur die Sonne scheine, weiß es nun besser. Ebenso wenig kann die Stadt ihre Schizophrenie verbergen, ihre Zerrissenheit, ihre vielgesichtige Wirklichkeit.

Selten wurde der Kontrast deutlicher zwischen dem Alltag der Bevölkerung und der Kunstwelt, die Olympische Spiele wohl zwangsläufig sein müssen. Die Anfangseuphorie nach der grandiosen Eröffnungsfeier ist in Rio einer gewissen Ernüchterung gewichen. Der Alltag ist zurück, er war nie weg. Und dieser Alltag ist auch Krieg.

In Rio gibt es Gold, Silber, Bronze und Blei

Am Donnerstag rückten in der Nähe des Flughafens Spezialeinheiten der Polizei in den Favelakomplex Maré ein. Sie sollten die Drogengangster stellen, die einen Nationalgardisten in den Kopf geschossen hatten. Seine Einheit war versehentlich in die Favela abgebogen. Nun verbreiteten die Polizisten Angst und Schrecken.

Ein Bekannter aus Maré schrieb auf Facebook: „Hier haben heute die olympischen Spiele begonnen. 100 und 200 Meter Sprint um das eigene Leben. Das Team der Schützen trägt Uniformen. Aber die Ziele sind keine schwarzen Silhouetten. Es sind lebende Schwarze, die sterben vor Angst.“ Drei Jugendliche wurden von Polizeikugeln getroffen. Keiner hatte etwas mit dem Tod des Soldaten zu tun. „In Rio gibt es Gold, Silber, Bronze und Blei“, titelte eine Boulevardzeitung.

Man kann Rio de Janeiro nicht verstecken

Die Olympiaorganisatoren haben versucht, einige hässliche Seiten dieser Stadt zu verbergen. Aber man kann Rio de Janeiro nicht verstecken. Dazu sind die Spiele zu weit über die Stadt verteilt. Auch die Olympiabesucher bekommen die volle Portion Rio ab. Man steht anderthalb Stunden in einem überfüllten Expressbus vom Flughafen zum Olympiapark. Und strandet auf dem nächtlichen Nachhauseweg an einer Haltestelle, die ans olympische Schnellbusnetz nicht angeschlossen wurde, läuft noch einmal 15 Minuten zur nächsten Station.

Wenn man mit dem Zug ins Olympiazentrum Deodoro zuckelt, erblickt man draußen erbärmliche Favelas. Auf dem Rückweg sieht man rund um den Hauptbahnhof das ganze Elend der Obdachlosen, Straßenkinder und Crackabhängigen. Fast täglich hört man auch von Überfällen auf Olympiateilnehmer, die meisten im Stadtviertel Copacabana.

Diese Spiele, sie verändern Rio gar nicht so sehr. Rio verändert die Spiele. Und deswegen gibt es auch viel Schönes zu berichten. Auch dieses findet man eher an der Copacabana. Weniger im entlegenen Olympiapark, der mit seinen weiten Flächen, den Kunststoffzelten, Absperrgittern und Stahlrohrkonstruktionen viel Kälte ausstrahlt. An der Copacabana hingegen weht so etwas wie olympischer Geist. Hier steht die Arena für die Beachvolleyballer, vielleicht die Sportart, mit der die Einwohner Rio de Janeiros neben Fußball am meisten anfangen können.

An der Copacabana trifft man Hut- und Drogenverkäufer

Rund um die Arena ziehen von früh bis spät die Menschen über die berühmteste aller Strandpromenaden. Hier sind die Händler unterwegs, die einem olympische Fackeln, Bikinis und auch noch mitten in der Nacht Sonnenbrillen verkaufen wollen. Hier trifft man den Hutverkäufer, der zwei englische Worte beherrscht: „very fashionable!“ Etwas weiter bieten einige Jungs „local weed“, also Drogen an.

Auch ein neues Geschicklichkeitsspiel gibt es hier. Man muss bloß aus einem Meter Entfernung zwei beieinander stehende Plastikflaschen per Fußball treffen. Es will auf mysteriöse Weise niemandem gelingen. Hier, an der Copacabana, hört man die Sprachen dieser Spiele, hier stehen Fans von den Fidschi-Inseln mit Kenianern und Brasilianern am Strandkiosk und fachsimpeln über Rugby.

Die Silbermedaille für olympischen Geist geht an den Mauá-Platz im revitalisierten Hafenviertel. Jeden Abend strömen Tausende herbei, um die Konzerte brasilianischer Musiker zu hören. Zuletzt spielte die Samba-Diva Elza Soares. Die 80-Jährige gilt als Stimme der Favelas. Bei ihrem Auftritt rief sie immer wieder den Namen Rafaela Silva ins Mikrofon. Die schwarze und lesbische Judokämpferin hatte die erste Goldmedaille für Brasilien bei diesen Spielen gewonnen.

Die Menge singt "Fora Temer" - Temer raus

Kurz darauf stimmt die Menge einen anderen Chor an: „Fora Temer“ – Temer raus. In den Arenen hatte das lokale Organisationskomitee die Demonstrationen gegen Brasiliens Interimspräsident untersagt. Hier sind sie dafür umso lauter. Rio lässt sich nicht zurechtbiegen.

Die Staatskrise Brasiliens, die Wirtschaftskrise, die soziale Ungleichheit, die Gewalt. Sie brechen immer wieder in diese Spiele ein. Die vielen freien Sitze bei den Wettbewerben sprechen Bände. Selbst Serena Williams spielte vor leeren Rängen. Es sind die Spiele in den Zeiten der Krise.

Der Platzwart murmelt: "Drei Jahre Vorbereitung für 30 Sekunden"

Es gab diesen Moment, einen Tag vor der Eröffnungsfeier. Die Fackel zog durch einen von Rios grauen Vororten. In einem kleinen Stadion warteten: eine Band, Tänzer, 500 Menschen. Dann kam zuerst eine Sondereinheit der Polizei zur Bekämpfung von Unruhen. Dahinter die grellen Sponsorentrucks von Coca Cola und Nissan mit ohrenbetäubendem Hip-Hop. Dann kam von Sicherheitsleuten abgeschirmt die Fackelträgerin. Rein ins Stadion, Feuer übergeben und raus. Die Arena leerte sich in Windeseile. Nur der Platzwart las noch etwas Müll auf und murmelte: „Drei Jahre Vorbereitung für 30 Sekunden.“ Es könnte der Prolog für das sein, was Rio nach den Spielen, dieser etwas irren Party, erwartet. Leere.

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