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Olympia: Nur unter Protest

"Athleten haben nicht zu denken": Funktionäre und Sportler diskutieren über die Meinungsfreiheit bei den Spielen.

Den kuriosesten Beitrag im großen Konferenzsaal des China World Hotel lieferte Idriss Dokony Adiker. „Dieser Diskussion muss ein Ende gemacht werden“, sagte das Mitglied des Nationalen Olympischen Komitees des Tschad am Montagnachmittag, nachdem sich schon zahlreiche seiner Kollegen zu Wort gemeldet hatten. Nach seinem Verständnis stellt sich die Angelegenheit gar nicht kompliziert dar. „Die Athleten haben nicht zu denken“, sagte er, „sie sollen gegeneinander wettkämpfen.“

Anderswo scheint den Athleten das Denken dann doch erlaubt zu sein. Vor allem aufgrund einer Initiative der europäischen Verbände diskutierte die Vollversammlung der Nationalen Olympischen Komitees Anoc in Peking intensiv eine Frage, die Athleten und Sportfunktionäre seit den Ereignissen von Tibet beschäftigt: Wie dürfen sich Athleten bei den Olympischen Spielen politisch äußern? „Die Athleten wollen wissen, was erlaubt ist und was nicht“, sagte Claudia Bokel, Athletensprecherin der europäischen Verbände, „sie sind in der Tibet-Frage beunruhigt und wollen das auch zeigen, ohne gegen die Olympische Charta zu verstoßen.“

Zu einer exakten Klärung dieser Frage kam es gestern nicht. Noch nicht? „IOC-Präsident Jacques Rogge wird sich am Donnerstag dazu äußern, dem will ich nicht vorgreifen“, sagte Thomas Bach, Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Die Sprachregelung lautet bislang: Die Athleten dürfen sich frei äußern, solange sie nicht gegen die olympische Charta verstoßen. Doch was erlaubt diese und was nicht? Und was fällt unter freie Meinungsfreiheit und was nicht? Der Anoc-Vorsitzende Mario Vazquez Rana zeigte sich ratlos von der Diskussion. „Wir können doch nicht die Olympische Charta neu schreiben“, sagte der Mexikaner, „in solchen Texten ist nicht jeder einzelne Fall aufgeführt, der Ausdruck ,freie Meinungsäußerung' ist noch nicht näher untersucht worden.“

Doch genau das dürfte den Delegierten der Nationalen Verbände und dem Internationalen Olympischen Komitee in den nächsten Tagen in Peking bevorstehen. Nach Thomas Bachs Verständnis dürfen sich die Athleten auch bei den Siegerpressekonferenzen im Stadion politisch äußern. „Das ist eine Frage der freien Meinungsäußerung und keine politische Demonstration oder Propaganda.“ Letzteres sei, wenn ein Athlet mit einem Banner im Stadion erscheine. „Das widerspräche dem Sinn und Zweck von Olympischen Spielen“, sagte er, „es gibt in der Welt etwa 50 Kriege, wenn jeder hier für seine Sache werben würde, würde das nicht dem Sinn der Spiele entsprechen.“ Dieser nämlich sei es, Meinungsunterschiede für eine Zeit unterzuordnen, gemeinsam im Olympischen Dorf zu wohnen und nach gemeinsamen Regeln Sport zu treiben.

Französische Fackelläufer trugen bereits gestern einen Button, auf dem geschrieben stand: „für eine bessere Welt“. Auch deutsche Trainer und Athleten haben bereits mögliche Formen der Meinungsäußerung beschrieben: Der deutsche Wasserball-Bundestrainer Hagen Stamm etwa will seine Mannschaft in orangefarbenen Bademänteln einkleiden – der Farbe der tibetischen Mönchskutten. Fechterin Imke Duplitzer, die sich als eine der ersten öffentlich zur Verbindung von Politik und Sport in der Tibetfrage äußerte, will nicht zur Eröffnungsfeier gehen. Auch Stabhochspringerin Anna Battke, die sich bei der Hallen-WM in Valencia „Stop Doping“ auf den Bauch gemalt hatte, denkt über eine kreative Form des Protests nach.

Thomas Bach wollte Einzelfälle am Montag nicht diskutieren. „Die Athleten sollen sich an ihre Athletensprecher oder ihr NOK wenden und dann werden die konkreten Fälle besprochen“, empfiehlt der IOC-Vizepräsident. Doch Claudia Bokels Anfrage und die Diskussion der 205 Nationalen Olympischen Komitees (NOK) hat gezeigt, dass sich diese ebenfalls unsicher sind.

Auf Claudia Bokels Antrag hin wurde der Vorschlagstext für die gemeinsame Sitzung mit dem Internationalen Olympischen Komitee am Donnerstag noch ergänzt um den Passus: Die Athleten dürfen vor, während und nach den Spiele von Peking frei ihre Meinung äußern. „Ich hoffe stark, dass dieser Punkt berücksichtigt wird, aber man weiß ja nie“, sagte die deutsche Fechterin. Sie hat mit ihrem Antrag auf jeden Fall bewiesen, dass Athleten durchaus zum Denken fähig sind.

Die erloschene Fackel in Paris: Seite 3

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