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Ruderachter: Der deutsche Mythos

Am Mittwoch (Rennbeginn 13:30) wird vom Deutschland-Achter olympisches Gold erwartet. Das Ruderboot ist ein Symbol, ein Mythos – acht Männer, eingespielt bis in Sekundenbruchteile hinein. Harmonie ist dabei nur hinderlich.

Ralf Holtmeyer hat die Hände in den Taschen seiner Trainingshose vergraben. Jetzt steht er ein bisschen breitbeinig da, die Sonnenbrille auf die graue Baseballkappe geschoben, die Windjacke offen. Um seinen Hals baumelt eine Stoppuhr, sein Name steht auf dem Gehäuse.

Hinter ihm schimmert das Wasser der olympischen Ruderstrecke in Eton Dorney. Es ist glatt, das Wasser, es weht kaum Wind, die Flaggen an den Fahnenmasten, ganz hinten bei den Tribünen, hängen schlapp herunter.

Auf dem glatten Wasser hat der Deutschland-Achter gerade souverän seinen Vorlauf gewonnen, vor den Briten, vor den Holländern, vor den Kanadiern. „Bei diesem Wasser kommt unsere Technik besonders gut zur Geltung“, sagt Holtmeyer. „Die anderen hatten keine Chance.“ Das gefällt ihm. Er ist der Trainer des Deutschland-Achters.

Der 56-Jährige steht vor 20 Journalisten, er steht da als menschliche Mauer. Er muss seine Jungs schützen. Die haben gerade den 35. Sieg in Folge erreicht, das steigert die Erwartungen in gefährliche Dimensionen. „Bisher waren wir die Super-Favoriten, jetzt sind wir die Super-Super-Favoriten, die Jungs wollen das nicht hören“, sagt er. Holtmeyer redet leise, aber sehr bestimmt. Seine Jungs wollen jetzt nicht mit der Presse reden, Holtmeyer übernimmt den Job für sie.

Er muss sie schützen, das ist seine wichtigste Aufgabe. Sonst könnte der irrsinnige Erwartungsdruck im letzten Moment noch alles kaputt machen. 35 Siege in Folge, drei Weltmeister-Titel seit 2009 in Folge, das sind großartige Zahlen. Aber sie verkümmern zur traurigen Statistik, wenn der große Triumph fehlt.

Der Olympiasieg.

Der Deutschland-Achter ist nicht bloß ein Boot, er ist ein Mythos. Er sticht hervor aus der Flotte des deutschen Verbands. Acht Hünen, alle knapp zwei Meter groß, bewegen das schmale Boot in perfekter Synchronität. Das Boot: 17,62 Meter lang, 96 Kilogramm schwer, rund 40 000 Euro teuer. Bei jedem Zug liegt ein Druck von rund 50 Kilogramm auf dem Paddelblatt, 220 Mal ziehen die Athleten bei einem Rennen den Riemen durchs Wasser. Und wenn das Boot dann gleitet, erinnert es an einen hoheitsvoll dahinziehenden Schwan.

Der Achter ist auch immer ein Symbol von Kraft und Herrlichkeit. Aber eins ist er nicht: Er ist kein Symbol für eine verschworene Gemeinschaft. Der Gleichklang der Körper, die auf ihren Rollsitzen vor- und zurückgleiten, die Perfektion beim zeitgleichen Eintauchen der Blätter, das alles täuscht eine Harmonie vor, die es nicht gibt.

Bis zum Frühjahr sind die acht Männer, die jetzt in einem Boot sitzen, Konkurrenten gewesen. Da waren die besten deutschen Ruderer als Pärchen in Zweier-Booten verteilt. „Im Februar“, sagt auch Holtmeyer, „sind die Athleten noch in der Phase, in der sie schauen, wer wann wie gut ist.“ Das heißt, dass sie sich gegenseitig belauerten und beobachteten.

16, 18 Mann kämpften um die acht Plätze im Großboot. Holtmeyer testet in dieser Phase schon mal mit einer Achter-Besatzung, er setzt Leute rein und holt sie wieder raus, er beobachtet das Zusammenspiel. Die Werte beim Trockenrudern, das Harmoniegefühl, die Rudertechnik, das sind die Parameter, nach denen er entscheidet. Nach der Deutschen Kleinbootmeisterschaft, meist im April, hat er dann erst mal seine feste Besatzung. Aber selbst die ist nicht endgültig. Holtmeyer testet so lange, bis er rund drei Wochen vor der ersten wichtigen Regatta die aktuell optimale Formation gefunden hat. Wer schwächelt, fliegt raus. Ganz einfach.

Andreas Kuffner ist 2011 ins Boot gekommen, er hat seinen Platz bis heute verteidigt, Rollsitz sieben, das ist seine Position. „Ich finde es super, dass es nach dem Leistungsprinzip geht“, sagt er. Kuffner ist 1,96 Meter groß, wiegt 92 Kilogramm, ein weißes Sweatshirt bedeckt seinen muskulösen Oberkörper. Er wohnt und studiert schon lange in Berlin, aber sein bayerischer Akzent schimmert noch ein bisschen durch. Er kommt aus Vilshofen. Mit ihm rückte Eric Johannesen aus Hamburg in den Achter. „Das Erfolgsrezept des Boots ist es auch, dass keiner seinen Platz sicher hat“, sagt Kuffner. „Man muss sich ständig beweisen.“

Wer schwächelt, fliegt raus

Vor ein paar Jahren war das harte Prinzip ein wenig aufgeweicht worden. Nicht pure Leistung entschied, stattdessen hatten Altgediente einen gewissen Bonus. Jedenfalls sagen das ein paar Experten. Auf jeden Fall fuhr das Boot beängstigend deutlich hinterher, ausgerechnet der Achter, der Stolz des Verbandes, sein größtes Medien- und Sponsorenobjekt. Fast panikartig wurde dann kurz vor den Olympischen Spielen 2008 die Besatzung ausgetauscht. Die neue Crew, nicht aufeinander eingespielt, schaukelte im Pekinger Finale als Letzte über die imaginäre Ziellinie. Eine Blamage.

Der verantwortliche Trainer wurde abgelöst, Holtmeyer übernahm wieder. Er hatte den Achter schon von 1986 bis 2000 trainiert, seine Bilanz: Olympiasieg 1988, fünf WM-Titel, Silber und Bronze bei Olympia. Er hat in London auch die Aufgabe, die Ehre des Verbands wieder herzustellen. Unter Holtmeyer gab es den letzten Olympiasieg für den Deutschland-Achter.

Holtmeyer hat eine einfache Philosophie: „Wenn sich meine Jungs liebhaben wollen, müssen sie in einer Thekenmannschaft Fußball spielen.“ Und Kuffner sagt ohne größere Emotionen: „Ralf möchte nicht, dass zu viel Harmonie in der Mannschaft ist.“

Sebastian Schmidt hat den Deutschland-Achter 2009 und 2010 als Schlagmann zum WM-Titel geführt. Der Schlagmann gibt den Rhythmus im Boot vor, an seinem Schlag orientieren sich die sieben anderen im Boot. Seit 2011 rudert er im Vierer und nicht mehr im Achter. Er ist rausgeflogen. Er nennt den Achter eine „Zweckgemeinschaft“: „Dort sitzen auf keinen Fall acht Freunde.“ Schmidt hat wilde, lockige Haare, in seinem Gesicht sprießt ein Drei-Tage-Bart, und er kann ziemlich hart blicken, härter, als man es bei seinem weichen Gesicht vermuten würde. Er ist ein sehr selbstbewusster Mann. „Die acht Leute unter einen Hut zu bringen ist schon etwas Besonderes“, sagt er, „die zu koordinieren, ist die größte Aufgabe.“

Acht Individualisten müssen synchron funktionieren. Müssen einen Weg finden, wie sie ihre Persönlichkeit ausleben und sich trotzdem unterordnen. Ein Balanceakt, aber er funktioniert. Sie sind die Besten der Besten, sie wissen, dass sie alles in Grund und Boden rudern können, wenn sie zusammenarbeiten. Diese geistige Klammer verbindet sie.

Als Andreas Kuffner neu ins Boot kam, spürte er erst mal ein komisches Gefühl. „Der Druck war riesengroß. Was denn, wenn wir plötzlich ein Rennen verlieren. Heißt es dann, das liegt an den Neuen?“ Er hatte seinen festen Wohnsitz noch in Berlin, Johannesen in Hamburg, die anderen wohnen in Dortmund, wo der Stützpunkt des Achters ist. Sie haben dort ihre Freundinnen, ihre Wohnungen. Kuffner und Johannesen pendelten. Am Stützpunkt teilten sie sich ein Zimmer mit Stockbett. Sie wurden von den anderen beäugt, es war wie in jeder Gruppe, die Neue bekommt. „Es gibt Leute, die beobachten erst mal, es gibt welche, die sagen: Cool, dass du da bist.“ Bei Kuffner und Johannesen klappte die Integration schnell, schon nach kurzer Zeit hatten drei der Altgedienten sie in ihre Wohngemeinschaft eingeladen.

Aber sie hocken ja doch wie die Glucken beieinander, die Achter-Leute. Einen komplett trainingsfreien Tag in Dortmund gibt es nicht, mal kurz wegfahren: undenkbar. Und das Training kann endlos öde sein. Jeden Tag ziehen sie das Boot auf dem Dortmund-Ems-Kanal vorbei an hässlichen Spundwänden, Krananlagen, bei Kälte, Wind, Regen. Dazu endlose Stunden im Kraftraum oder der altersschwachen Turnhalle. Die Atmosphäre ist trist, eine Atmosphäre, die Aggressionen weckt.

Wo endet die Toleranz der Gruppe? Kuffner lehnt sich zurück, er überlegt kurz. „Wenn einer ständig denkt, dass er rudertechnisch der Gott ist und alle anderen etwas falsch machen, dann muss man sich mal unterhalten“, sagt er dann. Aber so etwas hatte es in den vergangenen Jahren nie gegeben.

Manchmal werden die Diskussionen hitziger, in Trainingslagern zum Beispiel, wenn der Trainer sie an den Rand der Belastungsfähigkeit gebracht hat. Holtmeyer schaut dann oft einfach nur zu, seine Jungs sollen das unter sich ausmachen. Irgendeiner der Alten im Boot sagt dann beruhigend: „Jungs, kommt mal wieder runter.“ Dann ist das Thema durch.

Muss einer das Boot verlassen, wird das als Gesetz des Leistungsprinzips hingenommen. Auch von Kuffner, grundsätzlich jedenfalls. Aber nicht bei Gregor Hauffe. Der Fall Hauffe ist eines der seltenen Beispiele, in denen Emotionen in der Zweckgemeinschaft mitspielen. Hauffe musste in diesem Frühjahr gehen, nach drei Jahren im Achter. Das habe sie alle getroffen, sagt Kuffner. „Jeder mochte ihn.“ Aber ihn traf es am meisten. Hauffe saß im Bug, direkt hinter Kuffner, und die körperliche Nähe gab Sicherheit. Denn Hauffe hatte ihn sofort angenommen, er hatte Kuffner Tipps gegeben und dessen Selbstbewusstsein gestärkt. „Er hat mir die Ruhe gegeben, die ich gebraucht habe.“ Sie haben beim Essen zusammen gesessen, sie haben gemeinsam Fußball geschaut.

Irgendwann im Frühjahr kam Hauffe zu ihm, Minuten vor einer Mannschaftssitzung, und murmelte: „Ich flieg’ aus dem Boot.“ Für Kuffner ein „kleiner Schock“. Zehn Minuten später erfuhr es die ganze Mannschaft. Eine Woche benötigte Kuffner, um die Nachricht zu verdauen. Im Training musste er sich regelrecht zur Konzentration zwingen. Hauffe fährt jetzt im Vierer, er startet auch in Eton Dorney.

Jeder im Boot weiß, dass die anderen auch leiden

Auch Sebastian Schmidt ist ein Opfer des Leistungsprinzips gewesen, als er 2011 gehen musste. Und auch er ist ein Beispiel dafür, wie schnell im Achter der Rollenwechsel vollzogen wird. Vor der Saison 2010, als er noch Schlagmann war, kam mal Holtmeyer zu ihm, sie haben über die Zusammensetzung der Mannschaft gesprochen. Es war kein langes Gespräch, Schmidt glaubt auch nicht, „dass meine Aussagen Auswirkungen auf sein Handeln hatten“, aber immerhin hatte der Trainer ihn gefragt.

Schmidt steht zum Leistungsprinzip, grundsätzlich. Aber er fand die Art nicht fair, wie er ausgebootet wurde. Holtmeyer hat ihn auf Raten entfernt. Er setzte ihn in den Vierer, holte ihn wieder in den Achter, warf ihn dann doch raus. Schmidt mäkelte dann ein paar Mal öffentlich an Holtmeyer herum, aber es half nichts. Er stieg in den Vierer um. Er ist jetzt im selben Boot wie Hauffe.

Bei der WM 2011 in Tschechien war das Vierer-Finale mit Schmidt an Bord vor dem Endlauf der Achter. In dem hockte statt Schmidt jetzt Kristof Wilke am Schlag und führte den Achter so souverän zum WM-Titel wie Schmidt ein Jahr zuvor. Schmidt stand am Steg, als die Sieger anlegten. Er gratulierte ihnen. Mit welchem Gefühl? „Mit ein bisschen Wehmut.“ Aber für die Hünen, die gerade erschöpft aus ihrem Großboot stiegen, war er die lebende Drohung, was passiert, wenn sie sich nicht überwinden.

Darum geht es: sich überwinden. Es gibt eine Phase in jedem Rennen, in dem die Mitglieder dieser Zweckgemeinschaft emotional am intensivsten miteinander verbunden sind. Das ist der Moment, in dem Steuermann Martin Sauer in sein Mikrofon knapp ein Wort sagt und aus den vier Lautsprechern an Bord ertönt: „Ab.“

Dann kommt der Endspurt, nach ungefähr 1500 Metern. Dann werden die Schmerzen nahezu unerträglich. Sie haben schon nach 300 Metern eingesetzt, die Muskeln brennen, alles tut weh. Aber im Endspurt fahren sie wie in einem Tunnel, getrieben nur noch von der reinen Willensstärke. Die muss alle Alarmsignale des Körpers ignorieren. Der Körper teilt dem Gehirn mit: Der Kollaps steht bevor. Der Wille befiehlt: weitermachen, durchhalten. „Das sind so extreme Schmerzen, die kann sich keiner vorstellen. Es ist, als ob man von tausend Messern gestochen wird“, sagt Kuffner. „Solche Schmerzen hat man eigentlich sonst nie. Solche Schmerzen würde ich mir nie zufügen, wenn ich kein Ziel hätte.“

Jeder im Boot weiß, dass die anderen auch leiden, jeder vertraut darauf, dass die anderen nicht aufgeben, dass keiner nachlassen wird. Die unendlichen Qualen erzeugen einen Teamgeist, den sie sonst nie haben. Eine Leidensgemeinschaft. Die Riemen müssen ja zeitgleich eintauchen, wenn sie im Tunnel fahren, wenn sie kaum noch etwas mitbekommen. Dieser Gleichklang im Zustand höchster Belastung, das ist das Gesamtkunstwerk Deutschland-Achter.

Bei der Regatta in Belgrad hatten die Briten die Deutschen extrem attackiert, in Luzern hatten die Kanadier im Halbfinale eine Weltbestzeit gefahren. Aber in beiden Finalrennen hielt der Deutschland-Achter erfolgreich dagegen, die Zweckgemeinschaft erkämpfte sich den Sieg mit kollektiven Höllenqualen. Die nächsten stehen ihnen am Mittwoch bevor, beim olympischen Finale.

Irgendwann fällt am Ufer von Eton Dorney die Frage: „Herr Holtmeyer, ist dieser Achter der stärkste Achter, den Sie je trainiert haben?“

Da dreht sich der Trainer zur Seite und lacht verlegen. Dazu, sagt er, wolle er nichts sagen.

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