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Paralympics 2012: Die Helden von London

Sie starteten trotz Unfall, schliefen einfach ein oder besiegten ihr Schicksal. Diese Paralympioniken haben sich einen Platz in unserer Ehrengalerie verdient.

Die Athleten haben geschwitzt und zum Himmel gefleht. Sie haben mitunter ihre notdürftig geklebten Prothesen und Sportrollstühle noch schnell in der Werkstatt reparieren lassen. Und dann sind sie zum Beispiel in die North Greenwich Arena oder ins Excel-Center eingezogen – und waren überwältigt, als sie vom Jubel zehntausender Fans empfangen wurden. Auch eine Herausforderung, denn die meisten der mehr als 4200 Teilnehmer der 14. Paralympics treten sonst vor viel weniger Publikum an. In London haben ihnen allein in den Stadien und an der Strecke 4,5 Millionen Menschen zugejubelt.

Da gab es viele Helden. Einer von ihnen heißt Hans-Peter Durst. Er war 1994 im Auto von einem Lkw erfasst worden und leidet seitdem an Gleichgewichtsstörungen. Und jetzt rast ein alkoholisierter Radfahrer drei Wochen vor den Spielen in das Sportdreirad des Dortmunders. Dem 54-Jährigen wird der Daumen rausgerissen, am rechten Arm erleidet er einen dreifachen Bruch. Durst muss ins Krankenhaus. Egal, Paralympioniken wirft so leicht nichts aus der Bahn. Hans-Peter Durst holt mit Stützverbänden an beiden Armen im Einzelzeitfahren über 7,6 Kilometer Silber und bleibt noch vor seinem ewigen Kontrahenten, dem Briten David Stone.

Die Autorennstrecke Brands Hatch in Kent ist so steil, schräg und kurvig, dass manche aussteigen und schieben müssen. Dem querschnittgelähmten Vico Merklein geht da in seinem Handbike der Puls, als er mit angebrochenem, getaptem Rahmen „mit sechzig Sachen auf die 90-Grad-Kurve“ zurast. Der Hesse holt trotzdem Silber im Straßenrennen. Wie er hat Jacqueline Freney aus Australien allen Grund zum Feiern. Die Studentin vom Schwimmclub Richmond Valley erlebt im Aquatic Center gleich acht Mal, wie in der ausverkauften Halle mit den steil in die Höhe ansteigenen Sitzreihen die Flagge hochgezogen wird. Achtmal Gold. „Diejenigen von Ihnen, die aufstehen können, bitten wir, sich von den Sitzen zu erheben“, sagt der Hallensprecher. Er ist ein Held der Einfühlsamkeit.

Bildergalerie: Die Abschlussfeier der Paralympics 2012

Die links oberschenkelamputierte Natalie du Toit ist Teamkollegin des Südafrikaners Oscar Pistorius, der bei seinem finalen 400-Meter-Lauf am Samstagabend erleichtert, mit ausgestreckten Armen und paralympischem Rekord als Erster mit weitem Abstand über die 400 Meter ins Ziel läuft. Wie er hat auch du Toit bei Olympia mitgemacht. Bei den Paralympics liegt du Toit nach Leistung vor Pistorius: Sie holt dreimal Gold und einmal Silber, er zweimal Gold (Staffel und 400 Meter) und einmal Silber (200 Meter).

Über die 200 Meter der Klasse T44 stakst der 20-jährige Alan Fonteles Cardoso Oliveira mit seinen hohen Karbonstelzen vor dem Favoriten Pistorius ins Ziel und liegt über 200 Meter in 21,45 Sekunden knapp vorn. Seitdem ist der Nachwuchsathlet, der ebenfalls keine Beine hat, in seiner Heimat Brasilien, dem Ausrichterland von Paralympia und Olympia 2016, ein Held. Die Dritte im Bunde der bei beiden Spielen vertretenen Athleten ist Natalia Partyka, ohne rechten Unterarm geboren, die in Polen für je einmal Gold und Bronze gefeiert wird.

Peacock, Popow und Co. – gefeiert und vermarktet

Manch einer hat bei den Spielen keine Medaille, aber doch einen großen Sieg errungen. Martine Wright beispielsweise, Sitzvolleyballerin. Sie verlor bei dem Attentat in der Londoner U-Bahn am 7. Juli 2005 beide Beine – aber nicht ihren Stolz, ihren Ehrgeiz und ihren Lebenswillen. Die britischen Zeitungen, die allesamt Titelstories und seitenweise Sonderberichterstattung zu den Paralympics brachten, feierten Martine Wright, Trikotnummer 7, als ihre Heldin. So viele Frauen wie nie nahmen an den Spielen teil. Kylie Grimes, Team GB, war allein unter Männern, beim Rollstuhlrugby, wo sich alle wie beim Autoscooter rammen und oft mitsamt Stuhl umstürzen.

Bei Olympia kannten die Briten alle ihre Helden wie Usain Bolt oder Michael Phelps beim Namen. Seit den Paralympics in London feiert Großbritannien seine behinderten Spitzenathleten. Jonnie Peacock ist so einer. Der als Kind beinamputierte junge Mann sprintet einem auf vielen Werbeplakaten entgegen. Im 100-Meter-Lauf der Startklasse T44 bezwingt Peacock den großen Pistorius. Ebenfalls für die Ewigkeit im Gedächtnis: Die erste Goldene für das Team GB durch Radfahrerin Sarah Storey, und die Gold- und die zwei Silbermedaillen, die Teamkollege Mark Colbourne im Velodrom seinem verstorbenen Vater widmete. Alle britischen Paralympioniken und Olympiasieger werden am Montag bei einer Parade durch London erneut groß gefeiert.

Applaus gebührt auch Heinrich Popow. Der Sunnyboy der Deutschen holte Gold über 100 Meter in der Klasse T42 – und zweimal Bronze, auch im Team mit seinem ewigen Widersacher Woitek Czyz. Der wirft Popow am Morgen des 100-Meter-Wettkampfs vor, er laufe mit einer speziellen Prothese, die andere nicht bekämen. Popow nimmt es mit Humor, fühlt sich erst recht gepusht – und zeigt nach dem Rennen einfach auf die vielen anderen "blauen Knie" um ihn herum. Er ist auch ein Held der Spiele, weil er durch die Kooperation mit einer Herstellerfirma eine Sportprothese für Jedermann mitentwickelt hat. Ein Novum.

Um überhaupt in London dabei zu sein, haben einige Sportler bereits zuvor vollen Einsatz gebracht. Hassani Djae, der erste Repräsentant der Komoren überhaupt, schläft erstmal im Aquatic Center vor Erschöpfung ein. Er ist eine ganze Woche lang quer durch Europa bis nach London gereist. Eine ebenso lange Anreise hat der einzige Vertreter Ost-Timors, der Kurzstreckenläufer Filomeno Soares. Dessen Volonteer-Betreuerin in London, eine Deutsche, ist ihrem Übersetzungsprogramm auf dem Handy dankbar. Im Team Haiti startet ein Handbiker, der bei dem schweren Erdbeben Frau und acht Kinder verloren hat.

Die Helden der Paralympics bringen eben oft nicht nur sportliche, sondern fast auch übermenschliche Leistungen.

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