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Wende in Vancouver. Bei den letzten Winter-Paralympics 2010 drängten die sportlichen Leistungen die Schicksalsberichterstattung erstmals in den Hintergrund.

© imago sportfotodienst

Paralympics-Chef Craven im Interview: „Ich bin nicht behindert, ich sitze im Rollstuhl“

Dass die Olympischen Spiele in Sotschi zu einer großen Party werden, ist angesichts der aktuellen Kritik an Gastgeber Russland schwer vorstellbar. Gilt das auch für die Paralympics? Wir haben bei Chef-Organisator Philip Craven nachgefragt.

Herr Craven, Sotschi ist als Austragungsort der Winterspiele umstritten. Die Homosexuellen-Gesetze in Russland und die Umweltzerstörung sind die beherrschenden Debatten. Der ehemalige IOC-Präsident Jacques Rogge meint, dass es schwer wird, aus den Spielen eine große Party zu machen. Gilt das auch für die Paralympics, die ja direkt nach Olympia stattfinden?

Ich glaube, dass die Sportler aus den Spielen eine große Party machen, denn sie sind diejenigen, die selbst am meisten begeistert sind. Generell halte ich Sotschi für die Paralympischen Winterspiele aber für durchaus geeignet. Rollstuhlcurling und Schlittenhockey werden im Olympischen Park direkt neben dem Schwarzen Meer ausgetragen und in den Bergen findet Abfahrts- und Langlaufski, Biathlon und Snowboarden statt.

Dass Wintersport am Schwarzen Meer keinerlei Tradition hat, ist ein weiterer Kritikpunkt an Sotschi.

Ja, es ist richtig, dass Sotschi ein neues Wintersportgebiet ist, aber ich glaube, dass alle IOC-Mitglieder das wussten, als sie für Sotschi gestimmt haben. Manchmal ist es gut, an einen neuen Ort zu gehen und diesem Ort neuen Schwung zu geben. Und das tun die Paralympischen und Olympischen Spiele ja: Sie geben einem Teil eines Landes neuen Schwung, der sich dann hoffentlich auf das gesamte Land und die gesamte Nation ausweitet. Ich stehe den Spielen in Sotschi und den russischen Kollegen auf jeden Fall positiv gegenüber.

Paralympics-Chef Philip Craven
Paralympics-Chef Philip Craven

© imago sportfotodienst

In den letzten Jahren hat das öffentliche Interesse an den Paralympischen Spielen von Mal zu Mal zugenommen. Muss das IOC sich Sorgen machen, dass die Paralympischen Spiele den Olympischen Spielen in Zukunft die Schau stehlen?

Ganz und gar nicht. Wir haben eine tolle Partnerschaft mit dem IOC. Unsere letzte gemeinsame Vereinbarung garantiert, dass die Paralympics bis 2018 in Pyeongchang in Südkorea immer direkt nach den Olympischen Spielen stattfinden. Das IOC freut sich auf die Paralympischen Spiele, genau wie das IPC sich auf die Olympischen Spiele freut.

In Sotschi wird es erstmals die Extremsportarten Freestyle-Snowboarden und Freestyle-Skifahren geben, bei denen ein Hindernisparcours durchfahren werden muss. Die Einführung von Extremsportarten soll besonders junge Sportler ansprechen. Gibt es zu wenig junge Paralympics-Sportler?

Ich finde immer, dass es zu wenig Nachwuchs gibt. Auf der einen Seite haben wir viele Paralympioniken, deren sportliche Leistung bereits exzellent ist und die die jungen Leute dazu anregen, selbst mit dabei zu sein. Auf der anderen Seite müssen wir für junge Menschen natürlich auch die Möglichkeiten schaffen, dabei sein zu können. Das IPC arbeitet daran, sich nicht nur auf die bereits bestehende Leistung der Sportler zu konzentrieren, sondern auch auf die Entwicklung und Förderung von Nachwuchssportlern.

Wie wollen Sie die Nachwuchsarbeit konkret verbessern?

Letztes Jahr in London haben wir die Agitos-Stiftung gegründet. Das Wort Agito kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Ich bewege mich“. Die drei Agitos, die sich zusammen bewegen, sind das Symbol der Paralympics und ergeben unser Motto „Geist in Bewegung“. Durch die Agitos-Stiftung und die IPC-Academy in Manchester werden viele Programme entwickelt, die junge Leute zu den Paralympics bringen. Aber auch wenn man mit 25 oder 30 Jahren einen Unfall hatte und erst dann mit dem Sport anfängt, gibt es noch die Chance, bei den Paralympics mit dabei zu sein.

Es gibt aber immer noch viele weiße Flecken auf der Landkarte der Paralympics.

Ja. London 2012 war ein unglaublicher weltweiter Erfolg. Aber die wenigsten wissen, dass aus gerade mal zehn Ländern 50 Prozent aller Sportler kamen und aus 46 Ländern jeweils nur einer. Das muss sich in Zukunft ändern. Durch die Agitos-Stiftung sollen mehr Menschen auf der ganzen Welt Paralympics-Sport machen. Besonderen Wert werden wir dabei auf Afrika und Nord- und Südamerika legen.

Bei den Paralympics 2010 in Vancouver berichteten die Medien erstmals vermehrt über die Athleten und ihren Sport und nicht nur über ihre Behinderung. Hat sich die öffentliche Wahrnehmung von Behindertensport geändert?

Die Wahrnehmung der Paralympischen Spiele ändert sich sofort, sobald man den Sportlern einmal zugesehen hat. Es mangelt den Leuten, die noch überhaupt nichts über die Paralympics wissen, an Bildung. Dafür können sie nichts und deswegen sind wir ja da, wir wollen mehr und mehr Menschen mit den Paralympics in Berührung bringen. Sobald man nämlich auch nur eine einzige Erfahrung mit den Paralympics gemacht hat, ist man gezwungen, seine Wahrnehmung zu ändern. Über die Leistungen der Sportlerinnen und Sportler ist man zuerst erstaunt, dann überrascht, dann inspiriert und zuletzt begeistert. Wenn man einmal angesteckt ist, gibt es keine Heilung mehr.

Haben die Paralympics die Inklusion der Behinderten vorangebracht?

Beide Wörter, Inklusion und Behinderte, benutze ich nicht. Wir Sportler sehen uns selbst als Menschen, als Athleten, die sich weiter fortbewegen. Wir sind nun mal so, wie wir sind, und alle Teil einer Gesellschaft. Dieser ganze Sammelbegriff „behindert“ ist total negativ. Natürlich ist es nicht leicht, endlich über diesen Begriff hinwegzukommen, aber er drängt nur eine bestimmte Gruppe von Menschen an den Rand, die gar nicht an den Rand gedrängt werden wollen.

Also sehen Sie sich nicht als behindert an?

Nein, ich bin nicht behindert. Ich brauche einen Rollstuhl – na und? Das ist doch keine große Sache! Du hast Beine, ich hab Räder. Und ich habe sogar auch Beine, also habe ich eigentlich mehr als du. Es gibt da diesen Satz von Donna Ritchie, Captain des australischen Frauen-Rollstuhlbasketballteams 2000 in Sydney: „Paralympioniken haben keine Zeit, darüber nachzudenken, was nicht funktioniert. Stattdessen maximieren sie das, was funktioniert.“ Und dieses Konzentrieren auf das Positive, auf das, was funktioniert, ist es, was letztendlich die Wahrnehmung der Leute ändert.

Das Gespräch führte Nora Tschepe-Wiesinger.

SIR PHILIP CRAVEN, 63, wurde als Rollstuhl-Basketballer 1973 Weltmeister. Der Engländer ist seit 2001 der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC).

Nora Tschepe-Wiesinger

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