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Jonas Wengert (v.l.), David Kramer und Julia Hollnagel bei der Arbeit für die Paralympics Zeitung.

© Thilo Rückeis

Paralympics Tagebuch: Folge 9: Paralympics auf der Zielgeraden

Die Paralympics in Sotschi gehen zu Ende. Meine Meinung über das Gastgeberland musste ich in den letzten Tagen korrigieren. Russland hatte neben überragenden Sportlern auch überragendes Publikum zu bieten. Mit dem Ende der Spiele, darf jedoch nicht die inklusive Entwicklung zu Ende gehen.

Es fällt mir nicht leicht einen wirklichen Schwerpunkt in meinem Tagebucheintrag zu setzen. Zu viel ist in den vergangenen zehn Tagen passiert, zu viel habe ich hier erlebt.
Ich möchte mit etwas traurigem  beginnen: Heute Abend findet die Abschlussfeier der Winterparalympics 2014 in Sotschi statt. Die Spiele gehen also zu Ende. Morgen geht dann auch die Paralympics-Zeitung in den Urlaub. Ein Projekt, das mir ermöglicht hat, die Paralympics hier live vor Ort zu erleben und darüber zu berichten. Klar ist: Die letzten Tage waren stressig und hatten mit Entspannung wenig zu tun, wenig Schlaf, keinen Tagesrhythmus, immer in Gedanken an den nächsten Event und die noch zu erledigende Arbeit. Aber trotz und alledem: Es war die schönste Erfahrung die ich in meinem Leben  bisher machen durfte. Ich habe die Befürchtung zu Hause in ein kleines Loch zu fallen, so sehr beeindruckt bin ich von den Geschehnissen hier. Ich konnte mir zu Beginn nicht vorstellen, dass die Stimmung an den Wettkampfstätten derart bombastisch werden würde und ich habe den Russinnen und Russen auch nicht wirklich zugetraut, dass sie sich voll auf das Ereignis Paralympics einlassen können. Zu groß war in meinen Augen die gesellschaftliche Kluft zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung. Ich wurde eines Besseren belehrt.
Am Gigantischsten werde ich diesbezüglich das gestrige Sledgehockeyfinale in Erinnerung behalten. So etwas habe ich noch in keinem Fußballstadion erlebt. Die Partie: USA-Russland. Hexenkesselstimmung vorprogrammiert. Es wurde geackert und gekämpft. Das Publikum ging in jeder Aktion voll mit und erzeugte einen unbeschreiblichen Lärm. Aufgrund der überfüllten Rollstuhlplätze im Pressebereich, durfte ich das Spiel von den Zuschauerrollstuhlplätzen verfolgen. Diese befinden sich vor den Rängen, direkt am Spielfeldrand. Ich hatte so die Besucher hinter mir bestens im Blick und ich habe noch nie in meinem Leben, Menschen so schön leiden sehen. Das klingt grausam, aber ich finde es wunderbar, wenn Leute offensichtlich mit Haut und Haar vom Sport mitgerissen werden. Die Verzweiflung nach dem 1:0 der Amerikaner stand jedem ins Gesicht geschrieben. Die Russische Mannschaft wurde mit Sprechchören nach vorne gepeitscht und mit Leib und Seele unterstützt. Es spielte absolut keine Rolle ob die Sportler auf Schlittschuhen oder auf einem Schlitten übers Eis fegten. Es ging schlicht um den Sport und den Wettbewerb, wie während der gesamten Paralympics. Allerdings sollte es für die Russen nicht mehr reichen, die Goldmedaille ging an die USA. Was dann folgte, setzen diesem denkwürdigen Abend die Krone auf. Statt enttäuscht über das verlorene Match, feierten die mehr als 6.000 Zuschauer ihr Helden und bedankten sich für ein überragendes Turnier. Diese waren sichtlich gerührt und wirkte dann auch mit ihrem zweiten Rang zufrieden.
Klar wurden die russischen Athletinnen und Athleten am überschwänglichsten gefeiert. Aber auch alle anderen Sportler wurden für ihre Leistungen gefeiert. Als der deutsche Snowboarder Stefan Lösler in seinem dritten Lauf, auf der Zielgerade in die Fangzäune stürzte und sich anschließend auf die Strecke zurückkämpfte, wurde er vom Publikum mit überwältigendem Beifall empfangen.
Wie gesagt, ich war mir nicht sicher, wie gut die Russen ihre Gastgeberrolle würden erfüllen können und bin, was Atmosphäre und Stimmung angeht wirklich überrascht worden. Jetzt nach Ende der Paralympics wartet auf das Land eine neue Aufgabe: Wird man es schaffen, dass Menschen mit Behinderung in Russland, dauerhaft einen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden, und zwar auch abseits des Spitzensports?
Mir ist mein Glück, in Deutschland geboren zu sein, wo ich nie Angst haben musste, nur aufgrund meiner Behinderung an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden, hier noch einmal bewusst geworden.
Wenn übermorgen der Flieger nach Hause geht, werde ich die Paralympics mit einem weinenden Auge verlassen aber auch mit einem interessierten Auge die Reise Russlands in Zukunft verfolgen.

Jonas Wengert

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