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Sport: Polonaise aus dem Trauma

Die spanischen Spieler feiern den EM-Titel als Triumph einer ganzen Nation. Und Trainer Luis Aragones bereut wohl, dass er geht

Achtung, der Europameister kommt! Mit Hütchen, wie sie Toreros tragen, schwarz, mit Riemen unterm Kinn. Der Europameister tanzt Polonaise und singt „Viva España“. Ganz vorn marschiert Torwart Iker Casillas, hinter ihm mit freiem Oberkörper Carles Puyol und der Rest der Rasselbande. Die spanischen Reporter lauern schon seit einer halben Stunde vor der Kabine im Ernst-Happel-Stadion, sie drängen sich mit ihren Mikrofonen nach vorn, aber der Europameister will nur tanzen und singen, ein paar Minuten lang, dann zieht er sich wieder zurück. David Villa kommt heraus, mit Trikot und kurzer Hose, obwohl er gar nicht mitgespielt hat. Der verletzte Torschützenkönig dieser Europameisterschaft hat was für die Reporter. Eine Magnumflasche Champagner, er schüttelt sie und zielt mit der Fontäne auf die Mikrofone.

Der Europameister hat viel Spaß in dieser Nacht nach dem 1:0 über Deutschland, nach diesem Europameisterschaftsfinale von Wien, bei dem nur das Ergebnis knapp war. Der Europameister hatte ohnehin viel Spaß in den drei Wochen von Österreich. Die Spanier haben sich köstlich darüber amüsiert, dass ihnen so viele einreden wollten, sie würden aus historischen Gründen nie etwas gewinnen, sie hätten ein Trauma bei großen Turnieren und all das liege daran, dass sie eben keine Nation seien sondern ein Zweckverband zerstrittener Kleinvölker, denen die spanische Sache nicht am Herzen liege. Blödsinn, sagt Cesc Fabregas, der Katalane mit dem Arbeitsplatz in London. „Das war kein Sieg für Barcelona oder Madrid, sondern einer für Spanien!“

Und der historisch gewachsene Zwang zum Versagen bei großen Turnieren? Es interessiert eine Gruppe junger Männer herzlich wenig, was ihre Vorgänger in den vergangenen Dekaden angestellt haben. So wie die deutschen Spieler ihr Selbstbewusstsein ja auch nicht mehr aus dem Wunder von Bern beziehen. Die jungen Spanier empfinden das Scheitern der vergangenen Generationen nicht als Hypothek, aber sie haben Respekt vor den Alten. Andres Palop, Torwart Nummer drei, zwängt sich zur Siegerehrung in ein grünes Trikot mit schwarzem Aufsatz. Es gehörte Luis Arconada, dem Mann, der Spanien 1984 in das EM-Finale von Paris geführt hatte. Arconada war damals einer der besten Torhüter der Welt, aber in Paris ließ er einen harmlosen Freistoß von Michel Platini unter dem Körper ins Tor rutschen. Spanien verlor 0:2, und eine missglückte Torwartparade heißt in Spanien heute noch „una Arconada“. „Jeder hat Arconada nur wegen dieses Fehlers in Erinnerung“, sagt Palop. „Ich wollte zeigen, dass er auch ein großartiger Torwart war.“

Fernando Torres kommt. Er hat sich eine gelbrote Fahne um die Hüfte gebunden, in Kombination mit seinem roten Trikot sieht es aus, als würde er ein Kleid tragen. Torres hat das Tor des Abends geschossen, auch er lobt den großartigen Teamgeist und verspricht, die Mannschaft werde genauso weitermachen, weil sie auch die WM 2010 in Südafrika dominieren wolle, „es war mein erster großer Titel und hoffentlich nicht der letzte“. Eine Dolmetscherin, offensichtlich überfordert vom Redefluss des Spaniers, übersetzt, Torres wolle jetzt der beste Spieler der Welt werden.

Einer der besten Stürmer der Welt ist er längst, nach einer grandiosen Saison mit 33 Toren in Meisterschaft, Pokal und Champions League für den FC Liverpool. Luis Aragonés klopft Torres auf die Schulter. Er hat ihn als jungen Mann gefördert bei Atletico Madrid und auch an ihm festgehalten, als ihm in den ersten EM-Spielen einiges misslang. Also sagt Torres brav, welch großen Anteil der Trainer am Sieg habe, „Luis ist wie ein weiterer Spieler, und wir sind sehr glücklich, dass wir ihm in seinem letzten Spiel diesen Titel schenken konnten.“

Dann geht Torres zurück in die Kabine, Aragonés applaudiert, er ist offensichtlich einverstanden mit dem Kompliment seines Lieblingsspielers. Er hat wohl ein wenig voreilig den Vertrag bei Fenerbahce unterschrieben und verweigert auf Nachfrage jeden Kommentar zu seiner Zukunft. Er würde wohl gern bleiben und Spanien nach Südafrika führen. Aragonés wird in ein paar Wochen 70, aber selten wirkte er so fit wie in diesen EM-Tagen von Österreich. Für Aragonés war der Sieg von Wien in mehrfacher Hinsicht ein persönlicher Triumph. 1964 gehörte er zu der Mannschaft, die in Madrid zum ersten Mal Europameister wurde, musste aber vor dem Finale seinen Platz für Luis Suarez räumen. 1974 schoss der Stürmer Aragonés im Europapokalfinale von Brüssel gegen Bayern München das 1:0, aber die Bayern schafften noch den Ausgleich und im Wiederholungsspiel ein 4:0. Jetzt steht er endlich ganz oben.

Vor allem aber hat er es seinen Kritikern gezeigt, die sich so oft und gern lustig machen über sein vermeintlich schlichtes Gemüt. Und die ihm vorgeworfen haben, er habe 2006 in Deutschland die große Chance verspielt, auch einmal bei einer Weltmeisterschaft etwas Großes zu erreichen. Aragones knurrt unwillig. „2006 haben wir auch sehr gut gespielt, sind aber unglücklich an Frankreich gescheitert. Die Mannschaft hat sich seitdem entwickelt, und sie hat gelernt, wie man ein großes Turnier gewinnt.“ Dann verabschiedet sich Luis Aragonés, in die warme Nacht von Wien und in eine ungewisse Zukunft. Der Europameister tanzt, aber die Polonaise wird sich wohl einen neuen Anführer suchen müssen.

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