zum Hauptinhalt
Damals Lehrer und Schüler. In Ulm erlebte Rainer Widmayer (rechts) 1998 Ralf Rangnick als Trainer.

© Imago/Dahmen

RB Leipzig gegen Hertha BSC: Kampf der Systeme

Leipzig gegen Hertha BSC ist auch die Auseinandersetzung zwischen Ralf Rangnick und seinem früheren Spieler Rainer Widmayer. Rangnick schätzt das Spiel gegen den Ball, Herthas Stratege das mit Ball.

Rainer Widmayer erinnert sich noch gut an die Fahrgemeinschaft. Eine Stunde hin jeden Tag, eine zurück. Manchmal waren sie zu viert, manchmal auch nur zu zweit. Die Gespräche drehten sich oft um Fußball, gelegentlich um Interna aus der Mannschaft, und ab und zu riefen auch Journalisten an – und das war natürlich ganz aufschlussreich, wenn es zum Beispiel um dem Verteidiger Widmayer ging, der beim 0:5 gegen Arminia Bielefeld zwei Tore seines Gegenspielers Bruno Labbadia verschuldet hatte. Blöd war es eigentlich nur, wenn sie aufs Gelände des SSV Ulm fuhren und Widmayer die Blicke seiner Mitspieler spürte – als er aus dem Auto seines Trainers Ralf Rangnick stieg. „Da hatte ich immer ein schlechtes Gewissen“, sagt Widmayer, der Co-Trainer von Hertha BSC.

Fast 20 Jahre ist das jetzt her. 1997 hatte Rangnick Widmayer nach Ulm geholt, 1998 stiegen sie in die Zweite Liga auf, ein Jahr später in die Bundesliga, allerdings schon ohne Rangnick, der unter der Saison zum VfB Stuttgart gewechselt war. Für Widmayer, der damals Anfang 30 war und die meiste Zeit im Amateurfußball verbracht hatte, war die Zeit in Ulm ein spätes Karriere-Highlight – auch wegen Ralf Rangnick, der nicht nur „ein überragender Typ“ gewesen sei, sondern ihn auch fußballerisch geprägt habe. „Er war mein taktisch bester Trainer“, sagt Widmayer.

Am Samstag gibt es ein Wiedersehen

Am Samstag (15.30 Uhr, Sky) kommt es in Leipzig zum Wiedersehen, wenn im Bundesliga-Spitzenspiel der Tabellendritte Hertha beim Tabellenzweiten Rasenballsport antritt. Ohne Rangnick würde es dieses Duell wohl nicht geben. Der 58-Jährige ist das Mastermind hinter dem Aufstieg des Retortenklubs. Mit ihm als Interimstrainer gelang dem Verein im Sommer der Sprung in die Bundesliga, vor allem aber gibt er seit 2012 als Sportdirektor die große sportliche Linie vor.

Der Fußball, den Rangnick in Leipzig spielen lässt, ist nicht unbedingt Widmayers Ding. Etwas überspitzt formuliert, könnte man sogar sagen, dass seine Erfahrungen mit Rangnick dazu geführt haben, dass er sich bewusst von ihm abgrenzt. In jedem Fall weiß der Assistent von Cheftrainer Pal Dardai, was Hertha heute gegen die Leipziger erwartet, erst recht nach deren erster Saisonniederlage vor einer Woche. „Das wird eine Hochgeschwindigkeitsveranstaltung“, glaubt Widmayer. „Sie werden anfangen wie Schmitz’ Katze, ein hohes Tempo gehen und unsere Defensive aggressiv anlaufen. Und trotzdem kriegen wir unsere Chancen.“

Die gemeinsame Geschichte von Rainer Widmayer und Ralf Rangnick hat schon 1986 angefangen, als Widmayer aus der Landesliga zu den Amateuren des VfB Stuttgart stieß; deren Trainer hieß Ralf Rangnick. Ein besonders gutes Standing, vor allem bei den älteren Spielern, hatte der junge Coach damals nicht, obwohl er, nach heutigen Maßstäben, noch ein recht konventioneller Trainer war. Sein taktisches Erweckungserlebnis, die Fixierung auf das Spiel gegen den Ball, kam erst 1988, bei der Europameisterschaft in Deutschland.

Im Grunde gibt es im Fußball zwei große Stilrichtungen. Es geht um die Frage: Ist für mein Spiel der gegnerische Ballbesitz konstituierend? Oder der eigene? Widmayer mag es lieber, selbst aktiv zu sein, ein Spiel mit dem Ball zu entwickeln. Für Rangnick hingegen ist der Ballbesitz des Gegners ausschlaggebend. Danach richtet sich die eigene Herangehensweise. Es geht darum, den Ball am rechten Ort und zur passenden Zeit zu erobern – nämlich möglichst nah am Tor des Gegners und am besten dann, wenn er in der Defensive ungeordnet ist.

Fußball gegen den Ball in der radikalsten Form

Bei Rasenballsport Leipzig ist dieser Fußball in der bisher radikalsten Form zu sehen. Trainer Ralph Hasenhüttl, der die Mannschaft im Sommer übernommen hat, führt Rangnicks reine Lehre kongenial fort. Leipzig spielt „ein System gegen den Ball, das überragend ist“, sagt Widmayer. Es ist ein 4-2-4, in dem die Mittelfeldspieler mit den Stürmern ein symmetrisches Sechseck bilden, das seine Form eigentlich nicht verändert, egal wo es gerade auf Balljagd geht. „Du hast nur dann eine Chance, wenn du es schaffst, dieses Pressing zu umspielen“, glaubt Herthas Co-Trainer. Vermutlich werden es die Berliner daher heute mit vielen langen Bällen versuchen und mit zwei Stürmern als deren Adressaten. Einfach wird es ganz sicher nicht. „Es ist ein Kräftemessen mit der Mannschaft, deren Fußball in der Hinrunde extrem geachtet und wertgeschätzt wurde“, sagt Widmayer, „nicht nur in Deutschland, auch international.“

Zum ersten Mal ist Rangnick mit dieser Art Fußball beim SSV Ulm einer breiteren Öffentlichkeit aufgefallen. Als die Mannschaft, die im Sommer 1998 aufgestiegen war, überraschend auch die Zweitligatabelle anführte, wurde ihr Trainer im Dezember ins Sportstudio eingeladen. Um den Zuschauern das Wunder von Ulm zu erklären, verschob Rangnick Magnete auf einer Taktiktafel, erläuterte die Ulmer Variante der Raumdeckung und das kollektive ballorientierte Verschieben.

Kann Leipzig das eine ganze Saison durchhalten?

Im Ulm saßen die Spieler derweil bei ihrer Weihnachtsfeier und schauten sich im Fernsehen an, wie sich ihr Trainer auf der große Bühne schlug. Was Rangnick im TV-Studio vortrug, galt damals als revolutionär. Die Nationalmannschaft und die meisten Erstligisten spielten schließlich noch mit Libero und stupider Manndeckung. Rangnick selbst fand seine Ideen gar nicht kompliziert; später hat er sogar erzählt, das alles könne er auch einer Gruppe von Leichtathleten innerhalb weniger Wochen beibringen – was bei seinen Spielern in Ulm gar nicht gut ankam.

Dabei steht außer Frage, dass Rangnicks Fußball eine starke körperliche Komponente hat. Er erfordert viel Kraft und Ausdauer. Eigentlich glaubt Widmayer nicht, dass sich dieser Aufwand über eine ganze Saison durchhalten lässt. Auch deshalb ist er von den Leipzigern erstaunt. „Ich hätte nicht gedacht, dass das auf dem Niveau so lange möglich ist“, sagt er. „Man hat den Eindruck, die werden nicht müde.“

Trotzdem ist Rainer Widmayer ganz froh gewesen, als er im Sommer auf den neuen Spielplan geschaut hat. Vergleichsweise spät in einer Saison gegen Leipzig zu spielen, ist sicher kein Nachteil.

Zur Startseite