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Sport: Reifeprüfung, Teil zwei

Nach bestandenem Abitur will Fabian Hambüchen bei der Turn-EM in den Medaillenkampf eingreifen

Es ist ungewöhnlich, dass Spitzensportler Prioritäten setzen, die nichts mit Sport zu tun haben. Die Priorität von Fabian Hambüchen in den vergangenen Wochen hieß Abitur, dafür ließ der Turner aus Wetzlar sogar den Weltcup in Cottbus sausen. So gerne die ostdeutschen Fans den einzigen Turnstar der Nation im März gesehen hätten, er blieb hart, bereitete sich stattdessen auf seine Prüfungen vor – und tauchte vorübergehend ab. Kaum öffentliche Auftritte, keine Interviews, dafür sogar Spekulationen, ob er überhaupt bei der Europameisterschaft an den Start geht, die am heutigen Donnerstag in Amsterdam beginnt.

Er geht an den Start – und will sogar den überstandenen Stress für sich nutzen: „Ich fühle mich wie von einer Last befreit. Die vergangenen Wochen habe ich volle Kanne trainiert und will jetzt unbedingt was reißen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Trotz des Abiturs kann diese EM die erste sportliche Reifeprüfung für Hambüchen in diesem Super-Turnjahr werden, das mit der WM im September in Stuttgart seinen Höhepunkt findet: Experten schätzen, dass der 19-Jährige, der 2006 WM-Bronze im Mehrkampf gewann, gut genug für Medaillen im Mehrkampf und am Boden, Sprung, Barren und Reck ist. Der Mehrkampf-Titel wäre ein Novum: Noch nie hat ein deutscher Turner bei einer EM oder WM Mehrkampf-Gold geholt.

Die beste Mehrkampf-Platzierung gelang 1975 Eberhard Gienger mit EM-Silber. Er gilt vielen bis heute als der einzig legitime Vorturner der Nation, trotz seiner mittlerweile 55 Jahre. Das Kunstturnen hat sich seither radikal verändert, und nur Ausnahmetalente wie Fabian Hambüchen können es sich erlauben, ein wichtiges Weltcupturnier wie das in Cottbus abzusagen. „Er ist unglaublich konsequent, sein Management läuft nicht jedem Euro hinterher und auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, den Olympischen Spielen 2008 in Peking, wird keine Störung geduldet“, sagt Gienger, Reck-Weltmeister von 1974.

Die Konsequenz: Hambüchen konzentriert sich auf wenige wichtige Wettkämpfe wie die EM und die WM, wo er international Punkte sammeln kann. „Man merkt bei Hambüchen, dass da ein großer Plan dahintersteckt“, sagt Gienger. Zu diesem Plan gehört, dass Hambüchens Vater und Trainer Wolfgang immer wieder (Wettkampf-)Pausen einbaut, in denen sein Sohn genügend Zeit hat, neue komplizierte Elemente einzuüben, ohne die er international keine Chance auf eine Medaille hätte.

Hambüchen hat mit seinem EM-Titel am Reck 2005 und Mehrkampf-Bronze bei der WM 2006 einer ganzen Sportart neue Aufmerksamkeit verschafft. So ist zu erklären, dass die Verantwortlichen beim Deutschen Turner-Bund (DTB) ihm Freiheiten lassen, damit er bei den großen Meisterschaften auf den Punkt fit ist. Die EM ist so eine Meisterschaft. „Sie ist die erste Standortbestimmung im Hinblick auf Peking“, sagt Gienger. Für die Macher der WM in Stuttgart in vier Monaten ist sie mehr: Sind die Deutschen in Amsterdam erfolgreich, wird die Aufmerksamkeit für die WM steigen.

Gienger, heute Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), hat aber nicht nur Hambüchen im Sinn, wenn er vom Aufschwung spricht. „Wir haben einige Turner, die in die EM-Finals kommen können“, sagt er, „und auch bei den Frauen sieht’s nicht mehr so schlecht aus.“ Die Einbürgerung der 31-jährigen ehemaligen usbekischen Weltklasseturnerin Oksana Tschussowitina ist nur ein Grund dafür. Wichtiger ist, dass beim Nachwuchs in den vergangenen Jahren konsequent gearbeitet wurde. Wie bei den Männern übrigens, wo im Windschatten von Hambüchens Erfolgen Athleten wie der 19-jährige Marcel Nguyen (Unterhaching) herangereift sind. Sie alle stehen vor ihrer Reifeprüfung. Wie Fabian Hambüchen. Mit dem Abitur in der Tasche.

Jürgen Roos[Stuttgart]

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