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Drache

© AFP

Reportage: Not und Spiele - Chinas Gegensätze

Medien, Sicherheit, sogar das Wetter: Seit Jahren bereitet China alles auf Olympia vor. Es hat dabei zwei Schritte vor getan – und eineinhalb zurück. Szenen aus einem widersprüchlichen Land, aufgeschrieben von unserem China-Korrespondenten Harald Maass.

Die Jubler und die Aufpasser

Peking im Juli 2001. Die Verkäuferin im Kaufhaus reagiert als Erste. „Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!“, brüllt sie über die Lautsprecher. Die Entscheidung ist gefallen: Peking wird die olympischen Sommerspiele 2008 ausrichten. Zehntausende feiern in dieser Nacht auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Polizisten, die sonst streng den Verkehr regeln, recken die Fäuste in die Höhe. Noch nie hat man die Menschen in China so ausgelassen gesehen. Wang Wei, Vizepräsident des Pekinger Organisationskomitees, erklärt: „Die Olympischen Spiele werden helfen, die sozialen, ökonomischen und Menschenrechtsbedingungen weiter zu verbessern.“

Peking 2008. Der Tiananmen, der Platz des Himmlischen Friedens, ist fast menschenleer. Soldaten in grünen Uniformen kontrollieren die Zugänge zum Areal vor dem einstigen Kaiserpalast. Besucher müssen ihren Ausweis zeigen, jede Tasche wird durchleuchtet. In den belebten Geschäftsvierteln sitzen alle paar Meter Aufpasser. Auf ihren Armbinden steht „Verkehrskontrolle“, in Wirklichkeit beobachten sie die Passanten. Chinas Regierende fürchten, dass Menschenrechtler und Tibetaktivisten aus dem Ausland die Spiele nutzen könnten, um Proteste zu veranstalten.

Die Stimmung ist merkwürdig gedämpft, es ist, als seien die Menschen nach den jahrelangen Vorbereitungen, nach immer neuen Kampagnen für ein „zivilisiertes Olympia“, immer neuen Baustellen ermüdet, noch bevor alles angefangen hat. „Ich bin nicht im Freudentaumel“, sagt die Designerin Yu Mei, 32. Sie lächelt etwas mitleidig. „Ach, ihr Ausländer. Ihr habt die Spiele von Anfang an überschätzt.“ Sie erzählt von der patriotischen Umerziehung an der Uni nach den Protesten von 1989. Von der Kulturrevolution, als ihre Eltern als Intellektuelle verfolgt wurden. „Habt ihr wirklich geglaubt, dass die KP ihren jahrzehntelangen Machtanspruch aufgibt, nur weil hier ein großes Sportfest stattfindet?“

Der Himmel und die Regenhölle

China im Oktober 2003. Nach „Shenzhou 5“, der ersten bemannten Weltraummission Chinas, verfällt das Land in einen Freudentaumel. „Zehntausende Chinesen sind stolz“, schreibt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Vergessen die Schmach der vergangenen Monaten, als China gegen die Infektionskrankheit Sars kämpfte und wegen Vertuschung der Epidemie weltweit kritisiert wurde.

Seitdem ist der Himmel untertan. Und auch im August 2008 soll die Sonne scheinen, so wünschen es sich Pekings Führer. Damit die rund 90 000 Gäste bei der Eröffnungsfeier nicht im Regen stehen, haben die Behörden eine Wetterarmee aufmarschieren lassen. An 24 Standorten rund um die Hauptstadt stünden Hunderte Bauern bereit, die bei Bedarf mit Artilleriegeschützen Silberjodid in die Wolken schießen, berichten die Staatsmedien. Die Chemikalie soll die Wolken abregnen lassen, ehe sie Peking erreichen. Die Technik wird in China seit langem angewandt. Pünktlich zu Nationalfeiertagen und Parteikongressen scheint über Peking die Sonne.

Im Olympiamonat August ist die Regenwahrscheinlichkeit jedoch besonders hoch. Pekings Wetteramt hat für den Zeitraum vom 8. bis zum 24. August eine Regenwahrscheinlichkeit von 36,6 Prozent berechnet. „Eine Katastrophe“, schreiben die Staatszeitungen, wenn Regen die Eröffnungszeremonie stören würde.

Der Staat und der Sicherheitsterror

China im Dezember 2004. Nach 20 Minuten ist der Prozess des Dongcheng-Bezirksgerichts gegen Ye Guozhu,49, vorbei. Das Urteil: vier Jahre Haft. Ye hatte sich gegen den Zwangsabriss seines Restaurants und Wohnhauses gewehrt. Das Gebäude musste wie Tausende andere der Modernisierung Peking vor den Olympischen Spielen weichen. Ye habe „ernsthaft Ärger gemacht“ und die Arbeit des Obersten Gerichts und ausländischer Botschaften gestört, so zitieren die Abendnachrichten aus dem Urteil. Ye hatte einen Antrag für eine Demonstration eingereicht, um gegen die Zwangsumsiedlung protestieren zu können.

Peking 2008. Am Elektrogroßmarkt „Redlichkeit“ im Süden von Peking führt eine unscheinbare Straße vorbei, die an einem bewachten Tor endet. Seit einigen Wochen herrscht auf der Straße reger Betrieb. Polizeiautos und Minibusse fahren in das von hohen Mauern eingefriedete Gelände. Auf einem Messingschild neben dem Tor steht: „Service- und Unterstützungszentrum der Stadt Peking“. Wenn Fremde sich der Anlage nähern, werden sie von Wachleuten gestoppt. Das Servicezentrum ist in Wirklichkeit ein Lager für Bittsteller aus den Provinzen. Seit der Kaiserzeit haben Chinesen das Recht, bei der Zentralregierung eine Petition einzureichen, um auf Anliegen oder Missstände hinzuweisen. Tausende Chinesen pilgern deshalb jedes Jahr in die Hauptstadt. Oft geht es um Landstreitigkeiten, um Umweltskandale, um korrupte Richter und Polizeibeamte. Aber vor den Olympischen Spielen haben die Behörden alle Bittsteller aus den Provinzen „eingesammelt“. Im Servicezentrum hinter dem Elektromarkt werden sie eingesperrt, verhört und dann in ihre Provinzen zurückverfrachtet. Eine rechtliche Grundlage gibt es dafür offenbar nicht. „Wir sind ein Privatbetrieb, hier hat niemand Zutritt“, sagt ein Wachmann. Der Staat verleugnet sich. Über diesen Teil der Olympiavorbereitungen soll das Ausland nichts erfahren.

Demonstrationen sind während Olympia übrigens erlaubt – in drei Parks der Stadt. Aber es gibt Hürden. Jeder Protest muss fünf Tage vorher schriftlich im Büro der Sicherheitspolizei angemeldet werden. Hat man zwei Tage vor dem Termin keine Benachrichtigung, ist die Demonstration automatisch verboten.

Der Nationalismus und die Jugend

China im April 2005. Die Gäste im japanischen Restaurant Hansune haben noch Zeit, über eine Hintertreppe zu flüchten. Tausende junge Chinesen ziehen durch Peking, um gegen Japans Umgang mit seiner Kriegsvergangenheit zu protestieren. Steine fliegen, japanische Geschäfte werden demoliert. Vor der Residenz des Botschafters skandiert die Menge: „Japanische Schweine kommt raus!“ Chinas Jugend hat sich erhoben, zum ersten Mal seit den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. Doch diesmal treibt sie der Nationalismus.

Peking 2008. Dies sind die Spiele der chinesischen Jugend – eine Generation von Chinesen, die im Wirtschaftsboom der vergangenen zwei Jahrzehnte großgeworden ist. Handy und Internet sind für sie so selbstverständlich wie für ihre Eltern das rote Mao-Buch. Sie sind es, die als Freiwillige an den Wettkampfstätten stehen und Besuchern den Weg weisen. Sie sprechen Englisch und kennen die neuesten US-Fernsehserien. Doch trotz der westlichen Fassade sind sie zutiefst chinesisch. Olympia ist für sie ein Ausdruck der Wiedergeburt als Weltmacht. „Im vergangenen Jahrhundert wurden wir vom Westen rumgeschubst. Das ist vorbei, China ist wieder stark“, sagt der Student Tao.

Seit Gründung der Volksrepublik ist in China keine so patriotische Generation mehr herangewachsen. Diese jungen Leute haben das Militärmassaker von 1989 nicht bewusst miterlebt. Demokratie und Freiheit, das waren die Ideale ihrer Eltern. In der Schule haben sie gelernt, dass nur ein starkes China den Anschluss an die Weltspitze schaffen könne. Dass Menschenrechte und Meinungsfreiheit Werkzeuge des Westens seien, um China zu schwächen. Die Jugend ist heute das Rückgrat der Partei.

Die Medien und das Misstrauen

China im Dezember 2006. China lockert vor Olympia die Bestimmungen für ausländische Journalisten. Zum ersten Mal dürfen sie ohne Genehmigung der Behörden durch die Provinzen reisen. Es ist ein ernsthafter Versuch für mehr Pressefreiheit: In den kommenden Monaten hilft das chinesische Außenministerium mehrfach, wenn lokale Behörden versuchen, Journalisten zu behindern.

Peking 2008. Nun berichten bald 20 000 Journalisten aus Peking. Das Medienzentrum in der Nähe des Nationalstadions sei „eines der modernsten in der olympischen Geschichte“, schreiben die Zeitungen. Es gibt Restaurants, Banken, sogar Massagen. Was es nicht gibt, ist ein freier Zugang zum Internet: Webseiten über die Lage in Tibet sind gesperrt. Journalisten, die versuchen nach Tibet zu reisen, werden von den Behörden abgewimmelt. „Schicken Sie ein Fax“, sagt ein Beamter in Lhasa. Eine Antwort kommt nie.

Vorfreude

Eine Fahrt mit der neuen U-Bahn zu den Stätten der Wettkämpfe. Viele Passagiere haben die gelb-orangen Akkreditierungskarten des IOC umgehängt. Die Stimmung ist ausgelassen. „Ich freue mich darauf, Menschen aus anderen Länder kennenzulernen“, sagt Zhang. Sie jobbt in der Kantine des Medienzentrums. Wirtschaftsstudent Yu, 23, arbeitet bei der Weiterleitung der Sportergebnisse und träumt davon, einen US-Basketballstar zu treffen. „Von Olympia kann ich mal meinen Kindern erzählen“, sagt er. Auch das ist eine Wahrheit dieser Spiele. Viele Chinesen freuen sich einfach, dass sie in ihrem Land stattfinden. Es ist eine unschuldige Freude darüber, an einem Weltereignis teilzuhaben. Selbst wenn der Sonnenschein künstlich ist.

Harald Maass[Peking]

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