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Sport: Rhythmusweltmeister

Was hat die WM taktisch gebracht? Vor allem den Trend zur totalen Flexibilität

Berlin - Vielleicht war es die unglücklichste Auswechslung dieser Weltmeisterschaft. Esteban Cambiasso für Juan Riquelme. Noch 20 Minuten waren zu spielen, Argentinien führte 1:0 gegen den Gastgeber Deutschland. Dann beschloss Trainer José Pekerman seinen Spielgestalter einem Spielzerstörer zu opfern, um das knappe Resultat über die Zeit zu retten. Am Ende hatte Argentinien im Elfmeterschießen gegen die Deutschen verloren.

Die Auswechslung Pekermans war nicht deshalb so unglücklich, weil Deutschland noch gewann. Das kann immer mal passieren, wenn man ins Elfmeterschießen muss. Diese Auswechslung war deshalb eine gefühlte Katastrophe, weil Argentinien die vielleicht beste Mannschaft des Turniers war. Und zwar taktisch, technisch und körperlich. Man kann zwar jetzt gegen diese These einwenden, dass das ja nicht stimmen könne, schließlich haben es zwei andere Teams ins Finale geschafft. Trotzdem ist diese Hervorhebung der Argentinier gerechtfertigt: weil sie, zurzeit, den modernsten Fußball spielen.

Um das behaupten zu können, muss man natürlich erst einmal definieren, wie dieser moderne Fußball aussieht, bei dieser WM hat man ihn nämlich nur sehr selten gesehen. „Wenn man ehrlich ist und die rosarote Brille abnimmt, die alle in erster Linie wegen der tollen Stimmung bei der WM aufhaben“, sagt beispielsweise Deutschlands Chefausbilder Erich Rutemöller, „dann war das Niveau dieser WM nicht besonders hoch.“

Diese WM war geprägt von der Taktik und dem Versuch, das Spiel so eng wie möglich zu machen. Die Defensive hatte eindeutig Priorität, und das Verschieben der Dreier- oder Viererketten im Raum beherrschten fast alle Mannschaften ziemlich gut, egal, ob sie aus Europa, Asien, Afrika oder Südamerika kamen. Nicht von ungefähr urteilte die Technische Studiengruppe der Fifa unter Leitung des Deutschen Holger Osieck: „Der Leistungsunterschied zwischen den Mannschaften ist nicht mehr groß. Teams, von denen man erwartet hat, dass sie ein Haus der offenen Tür bieten würden, gab es nicht.“

Diese Spielweise, manchmal sogar mit zwei Viererketten hintereinander, führt nur dazu, dass die Räume auf dem Feld immer weniger werden. Dementsprechend gibt es auch weniger Torchancen, die Spannung lebt nur davon, ob es die eine oder andere Mannschaft schafft, den Riegel zu knacken. Oder davon, dass man darauf wartet, ob ein Team einen entscheidenden Fehler macht. „Wer es nicht schafft, seinen Angriff innerhalb von zehn oder zwölf Sekunden abzuschließen, hat es bei diesen Konstellationen sehr schwer“, hat Rutemöller beobachtet. Doch die Möglichkeiten, diese Enge wieder aufzulösen, sind gering.

Etwas ganz Neues „erfinden“ könne niemand, glaubt Rutemöller. Deshalb sind die Schritte hin zu mehr Offensive sehr klein und beschwerlich. Und sie können lange dauern. Aber immerhin gab es auch bei dieser WM erste sichtbare Lösungsansätze, der Enge in der Mitte zu entkommen. Die simpelste Variante waren die zahlreichen Distanzschüsse, die vor allem in der Vorrunde zu einigen Toren geführt haben. Eine andere Variante ist der Versuch, wieder mehr über die Außenpositionen zu spielen. Die Mexikaner haben das in den ersten 30 Minuten gegen Argentinien perfekt gemacht, die Deutschen haben dieses Mittel auch immer wieder eingesetzt. Beispielsweise bei dem „Last-Minute-Tor“ gegen Polen, als David Odonkor flankte und Oliver Neuville traf.

Doch um diese Vorstöße noch effektiver zu machen, bedarf es sehr gut ausgebildeter Spieler. Ein Mann wie Odonkor ist zwar schnell, und seine Spurts animieren das Publikum, doch seine technischen Qualitäten sind nicht gut genug. Dasselbe gilt für einen Verteidiger wie Arne Friedrich. Der Herthaner kann zwar in der Defensive auf Weltniveau mithalten, wie er gegen den Argentinier Carlos Tevez bewies, doch im Spiel nach vorne hat er große Schwächen. Mann gegen Mann kann sich Friedrich kaum einmal durchsetzen, zudem ist er oft zu langsam im Weiterspielen des Balles und im Erkennen der Situation. Philipp Lahm kommt dem Anforderungsprofil eines Weltklasseverteidigers mit offensiver Ausrichtung schon sehr viel näher.

Diese Rolle der Außenverteidiger jedoch ist im modernen Fußball nicht so neu. Neuer dagegen ist die Interpretation des defensiven Mittelfelds. Hier haben die Argentinier mit Mascherano und Gonzalez, die Italiener mit Pirlo und die Franzosen mit Vieira gezeigt, was ein moderner defensiver Mittelfeldspieler können muss: Er ist nicht nur Abräumer vor der Abwehr, sondern auch noch der erste Spielmacher. Dafür muss er perfekt ausgebildet sein. Pirlo beispielsweise verfügt über ein geniales Stellungsspiel, er ist gut im Tackling, er kann sehr genaue Pässe spielen und damit den eigenen Angriff schnell einleiten. Der Spieler im defensiven Mittelfeld ist der Schlüssel zum modernen und erfolgreichen Spiel. Der neue Spielgestalter trägt also im traditionellen Sinne nicht mehr die „Zehn“, sondern die „Sechs“. Torsten Frings beispielsweise verfügt trotz seiner guten Spiele nicht über diese Eigenschaften. Er kann das Spiel von hinten heraus nicht gestalten. Sebastian Kehl kann dies noch weniger, deshalb musste Michael Ballack im entscheidenden Spiel gegen Italien den defensiven Part übernehmen. Doch ein Ballack allein reicht im modernen Fußball nicht mehr aus, es braucht mindestens zwei, wie beispielsweise Vieira und Zidane oder Pirlo und Totti.

Die Zukunft wird also denen gehören, die ihre Spieler immer individueller schulen – wie beispielsweise die Argentinier. Rutemöller verweist hier gerne auf Berti Vogts, der schon vor zehn Jahren davon gesprochen hat, man müsse die „Positionstechnik trainieren“, was nichts anderes heißt, als die Individualisierung des Trainings voranzutreiben. Jürgen Klinsmann hat damit bereits begonnen, und Rutemöller glaubt, dass diese „Entwicklung nicht mehr zu stoppen ist“. Die Bundesliga, sagt Rutemöller, habe nur deshalb so verschnupft auf die Kritik von Klinsmann und Bierhoff reagiert, „weil man sich ertappt fühlte“.

Und warum spielen nun die Argentinier den modernsten Fußball? Weil sie am variantenreichsten sind. Sie können schnell durch die Mitte spielen oder das Spiel über außen forcieren. Sie können langsam und schnell, sie sind die Rhythmusweltmeister. Auch das ist eine Erkenntnis dieser WM: Die starren Systeme, die man kennt unter den Zahlenkombinationen 4-4-2, 3-5-2 oder 3-4-3, sind nicht mehr modern. Heute braucht man ganze Zahlenkolonnen, um zum Beispiel das Spiel der Italiener zu beschreiben: 4-1-3-1-1. Dahinter verbirgt sich der neue Trend, auch mitten im Spiel das System flexibel zu ändern. Die Italiener spielen zwar mit einer starken Defensive, trotzdem wechselte Trainer Lippi im entscheidenden Moment mehrere Stürmer ein. Das war Mut, der Argentinien fehlte.

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