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Sport: Rudern für den großen Schlag

Der Deutschland-Achter soll im Sommer olympisches Gold gewinnen – im Winter trainiert die Mannschaft und wählt ihre Besten aus

Dortmund. Die Fenster sind beschlagen. Kalt ist es, eiskalt, zwei Grad minus. Es ist Winter in Dortmund, es ist kurz nach acht Uhr morgens. Eine Industriebahn fährt vorbei. Wer denkt da schon an Sommersport? Ein paar Herren in einem Kellerraum: Vier Stufen führen hinunter in den Kraftraum des Ruderleistungszentrums Dortmund. Ein schlichter Raum mit Teppich an den Wänden und grünen Quadraten aus Gummi auf dem Boden. Aus der Anlage tönt laute Musik von Rage against the Machine. Ruder-Cheftrainer Dieter Grahn hockt mit verschränkten Armen auf einer Hantelbank und beobachtet die Schinderei seiner Jungs.

Sebastian Schulte sitzt auf dem Ruder-Ergometer. Sein Blick ist stur auf das Display gerichtet. Die aufgeblasenen Wangen verraten die Anstrengung. Links im Raum liegt Johannes Doberschütz bäuchlings auf einer Hantelbank, das Gesicht in ein weißes T-Shirt gepresst. Anreißen heißt seine Übung. 60-mal in zwei Minuten zieht er eine Langhantel zur Brust und lässt die 65 Kilogramm wieder auf den Boden scheppern. „30“, ruft Grahn, und Doberschütz weiß, er ist im Rhythmus. Grahn lächelt zufrieden. Viel muss der Sachse nicht sagen. „Die Jungs quälen sich gern.“

Sie quälen sich für ein Ziel: die Olympischen Spiele in Athen. Sie wollen 2004 im Achter sitzen und eine Medaille gewinnen, die verkorkste Weltmeisterschaft vergessen machen. Diesen schäbigen sechsten Platz. Sie hatten sich viel mehr vorgenommen. Und sie wissen, dass sie es eigentlich drauf hatten, ganz nach vorn zu fahren. „Athletisch waren die Jungs top“, sagt Dieter Grahn. Die Kraft- und Ausdauerwerte seien hervorragend gewesen. „Wir haben das nur nicht ins Wasser gebracht.“ Das, was Grahn gerne die „unbekümmerte Ruderei“ der ersten Jahre nennt, war weg.

Rückblende: Sommer 2003, Mailand. Der Deutschland-Achter kommt mit der Empfehlung eines dritten und zweiten WM-Platzes aus den Vorjahren und einer sehr guten Saison zur Ruder-WM. Dann das Halbfinale. Platz drei. „Wir hätten auch Zweiter werden können“, sagt Dieter Grahn. Aber irgendwie sind die acht nicht richtig rangegangen. Sie taktierten. In diesem Halbfinale war ihnen der dritte Platz genug. Er reichte fürs Finale, aber nur für einen Startplatz auf der Außenbahn. Sie bekamen die Bahn sechs zugelost. Dort, wo der Wind reinblies und Wellen gegen das Boot warf. Das gab dem angeknacksten Selbstvertrauen der jungen Ruderer den Rest. Sie paddelten hinterher. Platz sechs. Letzter im Finale, und das mit deutlichem Rückstand.

„Bei der WM haben wir unseren Rhythmus nicht gefunden“, sagt Michael Ruhe. Der Rotschopf wippt mit dem rechten Bein auf und ab. Wegen einer Erkältung kann er an diesem Morgen nicht mit den anderen im Kraftraum trainieren. Als Schlagmann gibt er den Rhythmus vor. Er weiß, dass es nicht sein Rennen war. Zweifel kamen und der Gedanke, dass er in Athen vielleicht nicht dabei sein könnte. Doch Grahn stellt klar: „Diese Niederlage kann man nicht nur am Schlagmann festmachen. Wenn es einfach nicht läuft, hat auch er keine Chance.“ Hinter dem Schlagmann muss der Ruderer auf Position 2 den Schlag auf die andere Seite bringen. Das Mittelschiff muss den Rhythmus aufnehmen. Dort sitzen die stärksten Leute, wie Johannes Doberschütz. Bei dem 23-jährigen Sachsen verteilen sich 107 Kilogramm auf 2,05 Meter Körpergröße. Die Ruderer vorne im Bug stellen das Boot. Wenn alle acht ein perfektes Ballett aus Kraft, Gefühl und Rhythmus sind, dann rutscht das Boot gut weg. „Dann fährst du mit einer 38er-Frequenz, glaubst aber nur 34-mal in der Minute zu schlagen“, erklärt Ruhe dieses „gute Gefühl“. Doch bei der Ruder-WM war das Gefühl anders. Irgendwo hat es in diesem sensiblen Gefüge gehakt.

Das gilt es bis Athen abzustellen. „Das Ziel ist eine Medaille“, sagt Dieter Grahn. Das will auch die Mannschaft. Die Motivation ist da. Das Team – der Großteil sind Studenten – ordnet dem großen Ziel alles unter. Klausuren und Seminare müssen warten. „Wir wollen den sechsten Platz ausbügeln“, plant Schlagmann Ruhe die Wiedergutmachung. „Das war nicht das, was wir können.“ Wer in Athen dabei sein wird, steht noch nicht fest. Auch die Position des Schlagmannes ist offen. „Alle haben eine Chance“, so Cheftrainer Grahn. Auch die Jungs aus den Vierer-Mannschaften. Sie gehören mit zum Kader, der sich im Ruderleistungszentrum am Dortmund-Ems-Kanal auf Olympia vorbereitet. Erst im April, nach drei großen Trainingslagern und zahlreichen Testrennen, will sich der Bundestrainer entscheiden, wer in Athen im Achter rudern soll.

Trotz der Konkurrenz ist die Stimmung gut. In der Trainingspause frühstücken die Rivalen um die acht Plätze gemeinsam. „Wenn nach Leistung entschieden wird, hat niemand von uns ein Problem damit, nicht im Boot zu sitzen“, sagt Sebastian Schulte. Das sei eben so im Leistungssport. Dann geht es ab zum Laufen. Michael Ruhe bleibt sitzen. Er ist noch nicht so weit, das ganze Pensum mitzumachen. Etwas verlegen erzählt er von sich, wie er über seinen Bruder zum Rudersport kam und nach dem ersten Mal wegen des derben Muskelkaters am liebsten wieder aufgehört hätte. Er hat es aber nicht getan. Und fand sich schließlich am Schlag im Deutschland-Achter wieder. Jenem Mythos, der bei allen Großereignissen das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zieht. Ruhe redet nicht gern über sich. Unruhig knibbelt der 23-Jährige an den Spuren, die der Sport in seinen Händen hinterlassen hat. Wenn es über seinen Sport geht, wird er sicherer. Der Student der Wirtschaftswissenschaften erzählt dann von der Faszination, wenn acht Männer an einem Strang ziehen. „Rudern ist eine Kopfsache“, sagt er. „Es geht immer darum, wer die meisten Schmerzen ertragen kann.“ Denn die Schmerzen kommen. Zuerst brennen die Beine, später der ganze Körper.

Auch wenn es für Außenstehende so aussehen mag, beim Rudern geht es nicht nur um Kraft. Man setzt nicht einfach die Stärksten am Ergometer ins Boot, und es läuft von alleine. „Dann wäre ich wohl gar nicht dabei“, sagt Ruhe. Er ist zwei Meter groß und 90 Kilogramm schwer. Wahrlich nicht gerade ein Kraftpaket für einen Ruderer. Doch er besitzt diese besondere Gabe, hat das beste Gespür für das Zurückrollen nach dem Zug. Und er kann sich quälen.

Zur Not auch alleine. Wie an diesem Nachmittag. Die Sonne steht schon tief über dem Dortmund-Ems-Kanal. Michael Ruhe muss wegen seiner Erkältung im Einer rudern. „Im Achter kann man sich nicht zurücknehmen“, erklärt Assistenztrainer Ralf Wenzel. „Da gibt man eher zu viel.“ Deshalb rudert Ruhe sich im Einer wieder heran. Es geht vorbei an alten Industrieanlagen, hinaus in den Dortmunder Norden. Der Achter kommt heran, zieht vorbei. Michael Ruhe blickt ihm nach. Eine Sonnenbrille verdeckt seine Augen. Auch seine Gedanken bleiben verborgen. Es ist noch eine weite Strecke bis Athen.

Jürgen Bröker

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