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Ab in den Schrank: Mario Götze trifft im WM-Finale die Socken von Frank Lüdecke.

© Imago

Rückblick auf das Fußball-Jahr 2014: Wie im Schaum

Konditormeister auf dem Platz, Mario Götze in seinem Schlafzimmer, professionelle Fußballversteher in profunder Erklärungsnot: Unser Kolumnist hat sich 2014 oft gewundert. Ein Rückblick auf das Fußballjahr 2014.

Wer fieberte im Sommer nicht mit diesem Team? Man hoffte. Man bangte. Welch grenzenlose Dramatik! Sie wissen längst, wovon ich spreche. Natürlich von – Eintracht Braunschweig. Mit einem Etat, von dem Bayern München nicht mal seinen Torwart finanzieren könnte, spielten sie munter in der Liga mit, um am Ende doch haarscharf abzusteigen. Dann geschah das Unerwartete. Und zwar gemäß der buddhistischen Vorstellung, dass sich das Bewusstsein einige Wochen nach dem Tod wieder mit einem neuen Körper verbindet. Und so stiegen die Braunschweiger Underdogs postwendend unter dem Namen SC Paderborn wieder in die erste Liga auf.

Klasse! Und danke an dieses Fußballjahr, dass ich mich so oft wundern durfte. In der Champions League mussten nach dem Halbfinale Bayern gegen Real Psychologen des Roten Kreuzes den Münchnern behutsam erklären, dass sie soeben 0:4 verloren hatten. Einige Spieler waren völlig verwirrt. Sie kannten den Begriff „Niederlage“ überhaupt nicht und mussten einige Tage stationär behandelt werden. Im Finale spielte dann Madrid gegen sich selbst. Real vs. Atletico. Und alle dachten, wer soll diese Spanier bei der WM schlagen können?

Die Antwort lautete: Holland. Und zwar 5:1. Und danach Chile, 2:0. Die Spanier überstanden nicht einmal die Vorrunde. Viele Experten hatten das im Nachhinein natürlich schon im Vorfeld geahnt. Allerdings häuften sich die Überraschungen in Brasilien, und professionelle Fußballversteher kamen in profunde Erklärungsnot. So mussten auch Portugal, Italien, Russland und England frühzeitig abreisen. England sogar als Gruppenletzter! Costa Rica gewann die Gruppe.

Doch es gab noch weitere Überraschungen. In einem Vorrundenspiel zog der Unparteiische plötzlich etwas aus einer Halterung und sprühte den verdutzten Spielern Sahne auf ihre Schuhe. Was erlebten wir denn da? Den Übergang vom Schiedsrichter zum Konditormeister? Das Freistoßspray setzte sich schnell durch. Nur in einem Land, das für seine guten Fußballer ebenso bekannt ist wie für seine exakten Vorschriften, gab es Probleme. Erst waren da ökologische Bedenken: Tenside! Butangas! Andere befürchteten, Schiedsrichter würden an Autorität einbüßen, wenn sie „vor den Stars in die Knie gingen“. Der ehemalige Schiedsrichter Lutz Michael Fröhlich hatte schon ein paar Jahre zuvor in einer Stellungnahme die Sorge geäußert, der Sprühvorgang könnte die Konzentration des Schiedsrichters „von seiner eigentlichen Aufgabe abziehen“. Dann bemängelte der Tüv Rheinland, dass da ein Aufkleber auf der Büchse fehle. Der Schaum sei nämlich entzündlich, da müsse ein Flammensymbol drauf sein. Außerdem enthalte die Substanz Parabene, die im Verdacht stünden, hormonell wirksam zu sein. So musste alles umetikettiert werden. Und dem TÜV Rheinland versicherte man, die Schiedsrichter würden auf dem Platz weder rauchen noch den Spielern den Schaum in den Mund sprühen. Sicher ist sicher.

Eine Mannschaft mit Torwart Neuer und zehn Innenverteidigern - streng genommen also elf Innenverteidiger

Die deutsche Mannschaft hatte in der WM-Vorbereitung viele Gegentreffer kassiert. Filmreif, wie sie 2012 innerhalb von 30 Minuten ein 4:0 gegen Schweden verspielte. Deshalb war der Bundestrainer vorsichtig geworden. Am liebsten hätte er in Brasilien eine Mannschaft mit Torwart Neuer und zehn Innenverteidigern aufgestellt. Streng genommen also elf Innenverteidiger. Denn Neuer ist ja in dem Sinne kein Torwart. Aber im Verlauf des Turniers variierte Löw seine Konzeption. Mit Philipp Lahm spielte plötzlich ein Außenverteidiger Außenverteidiger. Das war überraschend und brachte dem deutschen Spiel viel Stabilität. Und irgendwann bekam man den Eindruck: Geht hier was? Zumal sogar Miroslav Klose, der ja schon 1954 dabei gewesen war, bester WM-Torjäger aller Zeiten wurde.

Schweinsteiger, Khedira und Co. spielten sich ziemlich souverän ins Finale. Das Spiel des gesamten Turniers war aber nicht das Finale. Es war das Spiel davor. Das Halbfinale. Deutschland traf in Belo Horizonte auf Gastgeber Brasilien. Der Ausgang ist bekannt. Ich hatte das unbeschreibliche Glück, diese Begegnung (und auch die darauffolgende der deutschen Mannschaft) live miterleben zu dürfen. Nein, das hat nicht der Tagesspiegel bezahlt! Ich war Selbstzahler. Trotzdem schäme ich mich. Ich habe die Tickets über eine halbkriminelle Vereinigung bezogen. Die Fifa. Nach einer halben Stunde befürchtete ich, durch den langen Flug eine massive Wahrnehmungsstörung erlitten zu haben. Ich konnte das Gesehene nicht einordnen. Das hatte mit Realität wenig zu tun. Ich weiß noch, am Anfang war es im Stadion gelb und laut, dann war es gelb und still. Aus Gründen der Höflichkeit rief ich mit anderen deutschen Zuschauern die letzten fünf Minuten: „Brasil! Brasil!“ Ich bin der festen Überzeugung, wenn unser Planet in Tausenden von Jahren von außerirdischen Mikroorganismen bewohnt wird – von diesem Spiel werden sie immer noch telekommunizieren.

Karten für das WM-Finale - oder: Was ist eine fast 40-jährige Freundschaft wert?

Dann das Finale. 300 000 Argentinier waren nach Rio gekommen. Die Verzweifeltsten von ihnen boten vor dem Stadion bis zu 20 000 Euro für ein Ticket. Geringfügig mehr, als ich bezahlt hatte. Ich verfügte über zwei Karten. Eine für mich, eine für meinen Freund. Und überlegte. Was ist eine fast 40-jährige Freundschaft wert? Doch ich blieb bei meiner hochanständig idealistischen Haltung. Im Endspiel traf ein Land, das die Finanzkrisen verhältnismäßig stabil überstanden hatte, auf ein anderes, das bereits einige Staatspleiten erlebte. Eindeutig war der Ausgang nicht. Es war knapp. Sehr, sehr knapp. Entschieden durch einen einzigen Moment.

Wie ist dieser Sieg nun einzuordnen? Man hat ja immer versucht, die deutschen Weltmeistertitel in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. 1954 – Wirtschaftswunder! Oder 1990 – Wiedervereinigung! Und diesmal? Was sagt dieser Titel aus? Über uns? Wenn der Fußball Ausdruck einer bestimmten gesellschaftspolitischen Strömung sein soll, dann müsste man allerdings wissen, wofür unsere Gesellschaft und ihre Politik eigentlich stehen. Was kann das sein? Die Pkw-Maut? Der Länderfinanzausgleich?

Vielleicht sollte man auch nicht zu viel hineininterpretieren. In eine Mannschaft, die nach dem Sieg vor allem einen Wunsch hatte. Dass Helene Fischer singt. Sagen wir so: Das war ein hervorragend eingestelltes, willensstarkes Team, das uns einen tollen Sommer bereitet hat. Auch ohne theoretischen Unterbau.

Noch Wochen nach dem Turnier wachte ich morgens auf und wissen Sie, wer vor meinem Bett stand? Mario Götze! Drüben, vor dem Waschbecken, narrte Schürrle drei Argentinier. Plötzlich kommt ein hoher Ball aus dem Badezimmer, Götze nimmt ihn mit der Brust an und schießt ihn sofort mit einer Drehung links halbhoch in die äußerste rechte Ecke meines Kleiderschranks. Da, wo die Socken liegen. Eine Bewegung wie aus einem Guss. Dann dreht er jubelnd ab und Müller folgt ihm noch auf die Terrasse. Götze schoss dieses Tor fast täglich bei uns zu Hause. Bis hinein in den September. Dann wurde es ruhiger.

Der Berliner Kabarettist Frank Lüdecke schreibt jeden Montag im Tagesspiegel über die Fußball-Bundesliga. Mit seinem Programm „Schnee von morgen“ tritt er jeweils um 16 Uhr am 25. und 26. Dezember in den Wühlmäusen und am 28. Dezember im Schlossparktheater auf.

Frank Lüdecke

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