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© AFP

Rugby: „Wir Neuseeländer schätzen Gewalt im Spiel“

Schriftsteller Lloyd Jones über Rugby als Mythos und die Erwartungen in seinem Land vor der Weltmeisterschaft.

Am Freitag beginnt in Frankreich die Rugby-WM, eines der größten Sportereignisse der Welt. Während Rugby in Deutschland eine Nebenrolle spielt, ist es anderswo Nationalsport, etwa beim Turnierfavoriten Neuseeland. Der neuseeländische Bestseller-Autor Lloyd Jones hat ein Buch über die Faszination des Sports geschrieben.

Herr Jones, was bedeutet die Rugby-Nationalmannschaft für Neuseeland?

Dieses Team, das wir All Blacks nennen, existiert seit mehr als 100 Jahren. Für das junge Neuseeland ist das eine lange Zeit. Die Mannschaft hat bis heute 70 Prozent der Spiele gewonnen. Deshalb denkt jeder: Wir siegen immer und das mit Stil. Das ist unsere Tradition. Wir erwarten, dass wir den Cup gewinnen. Wie immer. Dabei haben wir ihn nur einmal gewonnen. Das war vor 20 Jahren, 1987.

Erklären Sie uns bitte, warum das Team der All Blacks in der ganzen Welt so populär ist.

Viele nennen uns die „Brasilianer des Rugby“, weil wir einen offensiven und attraktiven Stil bevorzugen. Und da ist auch noch der Haka, der Kriegstanz der Maori, den das Team vor jedem Spiel aufführt. Manche Menschen schalten nur dafür den Fernseher an. Wenn der Haka vorbei ist, schalten sie den Fernseher wieder aus.

Haben Sie selbst gespielt?

Als ich aufgewachsen bin, da hat man Rugby gespielt. Das war wie ein Einberufungsbefehl. Du kamst in ein Team und entsprechend deiner Statur wurde dir eine Rolle zugewiesen. Damals war sonst nichts los in Neuseeland, das Leben war recht monoton. Im Winter wurde Rugby gespielt, im Sommer Cricket. Das war’s.

Und wenn das Nationalteam spielte, saß das ganze Land vor dem Fernseher?

Genau. Wenn die All Blacks gespielt haben – das war vielleicht vier, fünf Mal im Jahr – stoppte das Leben im ganzen Land. Und wenn das Team verlor, war die Hölle los. Das kratzte immens an unserem Selbstbewusstsein. Die All Blacks waren damals das einzige Symbol für ein kollektives Bewusstsein, das uns und der Welt sagte, was wir kleines Land wert sind. Das ist heute nicht mehr ganz so extrem.

Hat sich das neuseeländische Rugby-Spiel auch mit dem Land verändert?

So wie sich das Land verändert hat, so hat sich auch das Spiel verändert. Als ich aufgewachsen bin, war die Gesellschaft langweilig, und so war auch das Spiel: konservativ, trocken. Dann in den Achtzigern begannen die großen Veränderungen, die das Land umstülpten, die die zentralisierte Wirtschaft befreiten und so schließlich auch die Gesellschaft. In dieser Zeit wurde auch unser Spiel kreativer und freier. Heute haben wir wiederum ein ganz anderes Problem: Rugby hat viele Konkurrenten bei den Jugendlichen – wie Skateboard fahren, Computer spielen. Man muss nicht mehr Rugby spielen.

Sie haben mit „The Book of Fame“ einen Roman geschrieben, in dem Sie dem Mythos der All Blacks auf den Grund gehen. Darin geht es um eine legendäre Tour der Nationalmannschaft nach Europa.

1905 sind 26 junge Neuseeländer auf einem Schiff nach England gefahren. Das war damals eine riesige Reise. Es war das erste All-Blacks-Team, das in England und Europa gespielt hat. Alle erwarteten, dass sie in den Spielen gegen die berühmten englischen Klub-Mannschaften und gegen Länder wie Schottland, Wales oder eben England, die als Erfinder des Rugby galten, sehr hohe Niederlagen einstecken würden. Aber die All Blacks gewannen 34 von 35 Spielen. Damit wurden sie zu Helden, in England und auch Zuhause. Das hat Neuseeland für viele erst auf die Weltkarte gesetzt. Und es war das erste Mal, dass sich Neuseeländer kollektiv als Neuseeländer wahrnahmen. Für uns ist dieses Team heute ein nationaler Mythos.

Ihr Rugby-Buch hat in Australien den wichtigsten Literaturpreis gewonnen. Dabei gilt den Neuseeländern Australien als Erzrivale, nicht nur im Rugby.

Stimmt, das ist schon ironisch. Es zeigt aber auch, wie populär diese erste neuseeländische Mannschaft bis heute ist. Auch in Australien, das uns sonst lieber die Pest an den Kragen wünscht.

Warum wurde gerade Rugby in Neuseeland so populär?

Das Spiel wurde von den englischen Einwanderern eingeführt – und im Nachhinein betrachtet passte es perfekt. Rugby symbolisiert Pioniergeist, Kolonialisierung und auch Krieg. Es ist schrecklich, aber wahr. Wir haben Neuseeland mit unserer Ankunft stark verändert und dabei war Gewalt häufig ein Mittel. Auch deswegen schätzen wir wohl Gewalt im Spiel. Raumeroberung, Landgewinn, Grenzen überwinden, überleben, verteidigen. All das erzählt viel über das frühe Neuseeland und das neuseeländische Rugby. Deswegen ist Rugby eines der wenigen Dinge, die alle Menschen berühren und die uns wie eine Klammer zusammenhalten. Besonders heute, wo unsere Kultur nicht nur auf europäischen Einwanderern und den vor ihnen eingewanderten Maori fußt, sondern auch auf Menschen aus Asien und aus Polynesien. Gerade für die Integration hat Rugby eine unglaublich große Bedeutung.

Rugby als Gesellschaftsmodell?

Ja, in einer gewissen Weise. Es ist ein sehr demokratisches Spiel, das nur erfolgreich ist, wenn es das Team schafft, alle Mitglieder und deren Rollen optimal einzusetzen. Und auch das sagt eine Menge über die Anfänge Neuseelands. Es gab damals nur wenige Menschen. Man konnte es sich nicht leisten, Arbeitskraft und Knowhow zu verschwenden. Also musste jeder seine Rolle in der Gesellschaft optimal ausfüllen. Auf dem Rugby-Feld brauchst du jeden Mann, ansonsten hast du keine Chance.

In Deutschland meint man, Rugby sei vor allem ein brutales Spiel.

Natürlich ist es ein brutales Spiel, aber dennoch ist es schönes Spiel. Man muss verstehen, was Rugby ist. Dir stehen 15 Typen gegenüber, die dich hindern wollen, etwas Kreatives zu erschaffen, etwas aufzubauen. Es ist wie mit der Kunst. Du versuchst etwas besonders Schönes zu schaffen – aus dem Chaos heraus. Rugby ist die ständige Suche nach Form durch Lösungen und Entscheidungen, die du als Individuum und als Team treffen musst. Fußball dagegen ist ein furchtbar langweiliges Spiel, wenn man zuschaut.

Werden die All Blacks den Titel gewinnen?

Jedes Team hat einen Zyklus. In den letzten drei Jahren sind die jetzigen All Blacks zusammen gewachsen, aber sie erreichen jetzt gerade erst den Punkt, an dem sie sich zu einem perfekten Team entwickeln können. Aber nur wenn wir gewinnen, ist die Welt für uns wirklich in Ordnung.

Das Gespräch führte Ingo Petz.

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