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Russland und die Liebe zum Eishockey: Eine Frage der Ehre

Olympisches Gold. Im Eishockey. Das ist für Russland ein nationaler Auftrag. Kein Sport ist hier beliebter – und kaum ein Gegner weniger gelitten als die USA. In Sotschi trafen beide Teams schon in der Vorrunde aufeinander. Ein Spiel mit Geschichte.

Scheibu! Ros-si-ja! Schießt den Puck ins Tor! Russland! Das Repertoire an Anfeuerungsrufen der Zuschauer im Bolschoi-Palast ist nicht groß. Aber es ist eindringlich, betäubend. Die große Arena im Olympiapark von Sotschi – von außen sieht sie aus wie ein gefrorener Wassertropfen. Das Dach flackert abends grell, wird zu einer riesigen gewölbten Leinwand, auf der Zwischenstände der Eishockeyspiele leuchten.

Am Samstagnachmittag leuchtet nichts, draußen ist es hell. Drinnen aber, in der Arena, toben 12 000 Zuschauer, sogar Wladimir Putin ist darunter. Der Präsident ist Russlands größter Eishockeyfan. Und obendrein ein guter Hobbyspieler, der das Eis in der Halle auch schon in voller Montur getestet hat – lange vor den beiden Mannschaften, die am Samstag in der Vorrunde des olympischen Turniers gegeneinander antreten.

Russland gegen die USA. Ein Spiel mit Geschichte. Mit der Geschichte des kalten Eishockeykrieges.

Jeder krachende Check gegen die Bande wird hier bejubelt. Auf den Treppenstufen stehen Cheerleader, in den Spielpausen dröhnt eine Orgel. Überall schwenken die Zuschauer Russlandfahnen, sie schreien, schimpfen, schwitzen. Fast jeder auf der Tribüne trägt ein Trikot der russischen Mannschaft, die heute mehr in Weiß auf dem Eis steht als im traditionellen Rot. Die Amerikaner spielen robust, die Russen technisch etwas besser. Ein Tor will trotzdem lange nicht fallen, nach einem Drittel steht es 0:0. Die russischen Fans werden ungeduldig, das Spiel ist kein Spaß, sie leiden mit.

Gold im Eishockey ist ein nationaler Auftrag für Russland

Es ist ein nationaler Auftrag für Russland. Gold. Im Eishockey. Für Staatschef Wladimir Putin ist das eine Frage der Ehre. Für die Spieler und für ein Volk, das diesen Sport liebt – und das darunter leidet, dass ihm der Erfolg in dieser Sportart vor nunmehr zwei Jahrzehnten, mit der politischen Wende, abhanden kam. Erst jetzt macht sich Eishockeyrussland daran, seinen Stolz zurückzuerobern, den einst die „Sbornaja“, die Nationalmannschaft, mit Olympiasiegen und Weltmeisterschaften der UdSSR gebracht hatte.

Selbst wenn sie nun international schon lange nicht mehr die Nummer eins sind, genau genommen sogar noch nie Olympiasieger waren, bleibt Eishockey der einzige Mannschaftssport, in dem sich die Russen mit den USA und Kanada auf Augenhöhe messen können.

Die Spieler der ehemaligen Sowjetunion waren Eishockeyroboter, der Torwart Wladislaw Tretjak, die legendäre Sturmreihe mit Wladimir Krutow, Igor Larionow und Sergej Makarow. Ihr Trainer war Viktor Tichonow, ein Mann mit ausgemergeltem Generalsgesicht. Ohne Humor, wenn es darum ging, die Gegnerschaft zu demütigen. Sein ehemaliger Spieler Igor Larionow sagte einmal, Tichonow habe seine Spieler geohrfeigt, wenn sie nicht spuren wollten. Spiele gegen die Russen waren für die Tschechen – besonders in den Jahren nach dem Prager Frühling –, für die Amerikaner und für die Kanadier immer auch ein Kampf verschiedener Ideologien. Das Spiel der Sowjetunion war Planwirtschaft auf dem Eis; ihr Kollektiv war der Ideologie vom Individuum, den vielen Einzelkönnern aus Nordamerika, meist überlegen. Auf olympische Goldmedaillen und Weltmeistertitel waren die UdSSR und die nur kurz existierende GUS von 1962 bis 1992 abonniert. Von 35 möglichen internationalen Titeln gewannen sie 27.

Dazwischen nur wenige Rückschläge: 1980 triumphierten die Amerikaner auf kitschig brutale Weise. Mit kämpferischem Teamgeist und weniger mit Spielkunst verpasste eine Auswahl von College-Amateuren mit einem 4:3-Sieg in der olympischen Endrunde dem übermächtigen Gegner UdSSR die größte Niederlage auf dem Eis. Jeder in den USA weiß bis heute, was mit „Miracle on Ice“ gemeint ist, dem Wunder auf dem Eis. Hollywood hat das Wunder von Lake Placid vom 22. Februar 1980 sogar verfilmt, verschnulzt als Erfolg des amerikanischen Traums.

Es war immer ein Duell der Systeme. Nie ging es dabei nur um Sport

TJ Oshie wurde im Penaltyschießen praktisch zum Alleinunterhalter und traf gleich vier Mal.
TJ Oshie wurde im Penaltyschießen praktisch zum Alleinunterhalter und traf gleich vier Mal.

© Reuters

Am Samstag, dem 15. Februar 2014, ist es ausgerechnet ein Großverdiener aus den USA, der die russischen Zuschauer – vorübergehend – erlöst. Pawel Dazjuk von den Detroit Red Wings. Vom Innenpfosten prallt der Puck ins Tor, da sind alle Zuschauer längst aufgesprungen, stehen, jubeln. Doch nur sechs Minuten später sitzen sie wieder, da liegt der Puck schon im russischen Tor. Nun springen die Amerikaner auf, einige hundert sind im Stadion verteilt. „U-S-A, U-S-A“, schallen ihre Rufe plötzlich durch die Eishalle – bis die Russen sie schließlich wieder übertönen. 1:1 steht es nach dem zweiten Drittel, nichts ist entschieden, es ist ein harter Kampf. Aber: Das Spiel zwischen Russen und Amerikanern ist kein Duell der Systeme mehr.

Im modernen Eishockey gibt es nur eine Weltliga, in der die Besten spielen. Die National Hockey League (NHL) in Nordamerika, an der nur ihr Name national ist. 23 Teams aus den USA und sieben aus Kanada sind in der NHL, dort gibt es die beste Infrastruktur, die größten Arenen und vor allem das meiste Geld. 15 von 25 Profis im russischen Olympiakader spielen in der NHL, der Torschütze Pawel Dazjuk ist nur einer von ihnen. Sie sind Multi-Dollarmillionäre, die in den USA oder Kanada leben. Mit den nordamerikanischen Nationalspielern, ihren Mannschaftskameraden in den Klubs, sind sie zum Teil befreundet.

Die NHL hat mit ihrem Geld das russische Eishockey aufgekauft. Der erste Russe wechselte bereits 1988 in die nordamerikanische Liga, schon ein Jahr später verdienten 100 seiner Landsleute ihr Geld dort. Mit der Umstellung auf die andere Kultur neben und auf dem Eis kamen allerdings nicht alle klar. Kaum einer aus der letzten Generation der UdSSR wurde eine Größe im nordamerikanischen Eishockey. Wjastscheslaw Fetisow war eine Ausnahme. Er war ein Star bei den News Jersey Devils und den Detroit Red Wings.

Eishockey-Held Fetisow war lange Sportminister

Fetisow war lange russischer Sportminister und hat die Bewerbung Sotschis für die Winterspiele erfolgreich mitgestaltet. Nun leitet er die russische Amateurliga und ist beim KHL-Klub in Wladiwostock engagiert. Als Wandler zwischen der amerikanischen und der russischen Welt trägt er graue Cowboystiefel und einen dicken Ring an der Hand, den Stanley-Cup-Ring für den Gewinn der NHL-Meisterschaft mit Detroit. „Ich war Teil der sogenannten Roten Maschine und ich war Teil des Wunders auf dem Eis“, sagt er. So habe er die berühmteste Silbermedaille der olympischen Geschichte gewonnen. Was passiert, wenn die Russen die nationale Mission nicht erfüllen, kein Gold gewinnen? „Was glauben Sie?“, sagt er. „Dass die dann nach Sibirien kommen ins Arbeitslager, um dort nach Gold zu graben?“ Fetisow lacht.

Die dritte Generation der Russen ist anders: Alexander Owetschkin ist eine Marke in Washington bei den Capitals, mit neun Millionen Saisongehalt der Bestverdiener seines Teams. Ein Punk, mit lausbubenhaftem Gesicht, Sympathie- und Werbeträger in Nordamerika.

Und doch ist Owetschkin Russe durch und durch. Ein Angebot von Präsident Putin, bei einem russischen Klub zu spielen, nahm der gebürtige Moskowiter zwar nicht an. Aber der russische Olympiabotschafter und Fackelläufer – „das größte Erlebnis meines Lebens“ – ist linientreu. Putin sei ein „schlauer Mann“ und habe „den Respekt des russischen Volkes“, sagt Owetschkin. Kritische Fragen nach der Politik seines größten Fans beantwortet er nicht. Er sei nur Eishockeyspieler, sagt er und machte doch im Vorfeld der Spiele Politik. „Ich wäre auch in die Heimat gefahren“, sagte er, „wenn es mir mein Klub in den USA verboten hätte.“ Olympisches Gold sei ihm wichtiger als alle anderen Titel. „Wir wollen unser Land glücklich machen.“

Ganz still wird es in der Halle, als klar ist: Das war’s. Vorerst.

Russlands Kapitän Pawel Dazjuk sicherte seiner Mannschaft mit seinen beiden Treffern zumindest einen Punkt.
Russlands Kapitän Pawel Dazjuk sicherte seiner Mannschaft mit seinen beiden Treffern zumindest einen Punkt.

© AFP

Am Samstag im Bolschoi-Palast tut Owetschkin vergleichsweise wenig für das Glück seines Landes. 2:1 steht es mittlerweile für die USA, dass die Russen kurz darauf ausgleichen, ist jedenfalls nicht Owetschkins Verdienst. Ilja Kowaltschuk ist der andere große Star im russischen Team, am Samstag auch der aktivere. Er ist einen Schritt weiter gegangen als Owetschkin und hat im vergangenen Jahr die NHL verlassen, trotz der Aussicht auf einen 77-Millionen-Dollar-Vertrag. So viel hätte er bekommen, wenn er noch zwölf Jahre bei den New Jersey Devils gespielt hätte. In Russland aber boten sie ihm mehr, in der Kontinental Hockey-League (KHL). Vor sechs Jahren wurde sie als Gegengewicht zur NHL gegründet, allein der Name ist schon eine Kampfansage: Kontinentale gegen Nationale Liga. Die KHL breitet sich über den europäischen Kontinent aus, die Teilnehmer kommen aus acht Ländern. Auch aus jenen ohne UdSSR-Vergangenheit.

Kowaltschuk unterschrieb bei SKA St. Petersburg einen Vierjahresvertrag, sein Jahresgehalt soll zwischen 15 und 20 Millionen Dollar liegen. Genau weiß man das nicht – anders als in Nordamerika. Dort lassen sich die Gehälter im Internet auf der offiziellen Seite der Spielergewerkschaft finden.

Eine Gewerkschaft für Spieler, so etwas gibt es in der KHL nicht. Überhaupt ist nicht durchschaubar, wer welche der 28 Klubs wie unterstützt. Der Energiekonzern Gazprom und dessen stellvertretender Vorstand Alexander Medwedew ist die große Macht in der KHL. Medwedew ist Präsident der Liga und des Klubs SKA St. Petersburg. Geht es nach ihm, dann wird die Kontinentale bald eine gewaltige Konkurrenz zur nordamerikanischen Liga. Finanziell wird sie für die besten Spieler schon jetzt zur Alternative, wie sich am Beispiel Kowaltschuk sehen lässt.

Selbst wenn die Skepsis vor der KHL im Westen noch groß ist – auch Vereine aus Schweden und sogar die Eisbären Berlin wurden schon vorsichtig taxiert. Noch aber ist die nordamerikanische Liga weit voraus. Mit den besseren Finanzen und der moderneren Infrastruktur. Und: Ihre Nationalteams waren zuletzt erfolgreicher.

In Nordamerika rechnen auch jetzt die meisten wieder mit einem Zweikampf zwischen Kanada und den USA um olympisches Gold. Die Russen wiederum kalkulieren seit Wochen ihre Chancen auf den Olympiasieg, ehemalige Eishockeystars tingeln durch Fernsehshows. Wladislaw Tretjak grüßt als lebensgroße Pappfigur aus russischen Schaufenstern, der ehemalige Torwart hat auch das Olympische Feuer von Sotschi entfacht. Tretjak ist 61 Jahre alt, gemütlich und freundlich, mit leichtem Bauchansatz. „Mann mit den 1000 Händen“ nannten sie ihn früher ob seiner Fangkünste. Tretjak sagt: „Eines habe ich nach der Niederlage gegen die Amerikaner 1980 gelernt. Es gibt bei Olympischen Spielen keine schwachen Gegner.“ Vier Jahre später hätten sie deshalb die USA bei Olympia auch wieder geschlagen.

Am Samstag gelingt das den Russen nicht. Das Spiel geht in die Verlängerung, auch da fällt kein entscheidendes Tor. Gleich stark, so wirken beide Teams. Gleich entschlossen. Erst das Penaltyschießen bringt ein Ergebnis: 3:2, ein Sieg für die USA. Mucksmäuschenstill werden die russischen Zuschauer, fast fluchtartig verlassen sie die Halle. Dabei war es nur ein Vorrundenspiel. Noch ist nichts verloren.

Gold, das soll am Ende Russland gehören. „Das sind wir unserem Land schuldig“, hatte Alexander Owetschkin vor Tagen bei einer Pressekonferenz gesagt. Die russischen Journalisten standen auf und applaudierten. Gold für Russland heißt auch: Gold für Putins Idee von Russland. Bis zum Endspiel am 23. Februar ist es noch weit, gut möglich, dass sich die beiden Mannschaften dort wiedertreffen, fast auf den Tag genau 34 Jahre nachdem die UdSSR ihr böses Eishockeywunder von Lake Placid erleiden mussten.

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