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Schalke 04: Manuel Neuer - Lehmann 2.0

Schalkes Torhüter Manuel Neuer erlebt eine schwierige zweite Saison als Profifußballer – trotzdem verkörpert er das Torwartspiel der Zukunft.

Den Moment, in dem das moderne Torwartspiel seine extremste Zuspitzung erfuhr, erlebte Manuel Neuer mit elf Jahren auf einer Autobahnraststätte. Auf dem Weg in den Winterurlaub musste Familie Neuer einen Zwischenstopp einlegen, weil im Fernsehen das Revierderby zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 gezeigt wurde. Zehn Jahre ist das jetzt her. Dortmund führte kurz vor Schluss 2:1, in letzter Minute gab es noch eine Ecke für Schalke, Torhüter Jens Lehmann lief in den Dortmunder Strafraum, er bekam den Ball genau auf den Kopf und erzielte den Ausgleich. Offensiver kann man das Torwartspiel nicht interpretieren.

Mit diesem Tor hat Lehmann Geschichte geschrieben, sein Wert für den deutschen Fußball ist trotzdem immer wieder in Frage gestellt worden. Gerade erst hat Lehmanns alter Rivale Oliver Kahn seinen Zweifel geäußert, ob es in Deutschland je wieder eine Torwartära geben werde wie die von Maier, Schumacher, Illgner oder auch ihm selbst. Was Kahn eigentlich sagen wollte: Lehmann war nicht groß genug für eine eigene Ära. In Wirklichkeit hat Lehmann mehr als eine Ära geprägt; er hat einen Stil erfunden, der ihn überdauern wird. „Jens Lehmann war der Vorreiter des offensiven Torwartspiels“, sagt Lothar Matuschak, der in den Siebzigern im Tor des Zweitligisten Westfalia Herne stand und seit zwölf Jahren bei Schalke 04 die Nachwuchstorhüter im Sinne Lehmanns trainiert. In niemandem findet dessen Stil einen entschiedeneren Nachahmer als in Neuer. „Manu ist was Besonderes“, sagt Matuschak. „Er schwebt über allen.“

Neuer, Schalke-Fan qua Gelsenkirchener Herkunft, war schon als Kind von Lehmann begeistert. Zu den Spielen im Parkstadion ist er meistens ein bisschen früher gekommen, um sein Idol aus der Nordkurve bereits bei den Aufwärmübungen zu beobachten. Als Lehmann für Dortmund spielte und von den Schalkern als Judas beschimpft wurde, „habe ich mich ein bisschen bedeckt gehalten“, sagt Neuer. „Er war ja zu der Zeit mein heimliches Vorbild.“

Anfang der vergangenen Saison hat Manuel Neuer sein erstes Bundesligaspiel für Schalke bestritten, im November 2006 löste er Frank Rost ab, seitdem ist er Stammtorhüter. Die Zweifel, ob er der Aufgabe mit damals 20 Jahren gewachsen sein würde, haben sich schnell zerstreut. Matthias Sammer, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), glaubt, dass Neuer im Zenit seiner Karriere „der beste Torwart der Welt“ sein wird: „Fast schon Weltklasse“ sei er, „nicht nur sportlich, sondern von seiner ganzen Ausstrahlung her. So dominant aufzutreten ist schon großartig.“

Lothar Matuschak hat Neuer zum ersten Mal in der C-Jugend registriert. „Er ging gerade bis zur Tischkante und hatte eine Piepsstimme“, sagt er. Heute hört sich das lustig an, aber damals stand Neuers Karriere auf dem Spiel. Er flog aus der Westfalenauswahl, weil er zu klein war, und bei Schalke durfte er wohl nur dank Matuschaks Intervention bleiben: „Bei allen körperlichen Defiziten – er hat fast immer die richtige Entscheidung getroffen. Als Torhüter musst du bereit sein, Entscheidungen zu treffen. Das tut er. Deshalb ist sein Spiel so gradlinig und so gut.“

Es gibt ein bezeichnendes Bild von Neuer, mit dem auch ein Sponsor der Schalker wirbt. Während der Torhüter rechts den Ball fängt, ist sein Blick schon wieder nach links gerichtet, darüber steht der Spruch: Am besten überall gleichzeitig sein. Der Torhüter der deutschen U-21-Nationalmannschaft ist nicht nur ein Ballfänger, er ist auch ein Spielbeschleuniger. „Die meisten Torhüter sind gut auf der Linie“, sagt Neuer. „Das was einen herausragenden von einem guten Torhüter unterscheidet, ist das Mitspielen.“

Als vor einem Jahr, etwa zur selben Zeit wie Neuer, auch der Leverkusener René Adler, 22, mit grandiosen Leistungen in der Bundesliga auftauchte, zudem Michael Rensing, 23, bei den Bayern offiziell zum Nachfolger für Oliver Kahn erkoren wurde, erlebte Deutschland, das Land der Torhüter, einen neuen Torwarthype. Doch der Begeisterung über die nächste Generation folgte zwangsläufig die Gegenreaktion. Das zweite Jahre werde viel schwieriger für die Jungs, hieß es. Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, als wartete die Nation nur auf ihre Fehler. Vor allem bei Manuel Neuer. „Davor darfst du keine Angst haben“, sagt er. „Man darf nie mit sich hadern.“

Natürlich erfüllten sich die düsteren Prophezeiungen, aber Neuer ließ sich davon nicht umhauen. „Im ersten Jahr war ja auch nicht alles super, was ich gemacht habe“, sagt er. „Nur bin ich da von der Presse unglaublich hochgejubelt worden.“ In dieser Saison erlebt er das Gegenteil. Beim ersten Einsatz in der Champions League leitete er mit einem Fehlgriff die Niederlage gegen Valencia ein, gegen Chelsea ließ er einen Ball durch die Arme rutschen, in Hannover unterlief er eine Flanke, aber am heftigsten war es in Rostock: Mit einem Abwurf wollte Neuer einen schnellen Konter einleiten, doch der Ball landete beim Rostocker Marc Stein, der Schalkes Torhüter mit einem Lupfer zum 1:1-Endstand überwand. Vermutlich ist ein solcher Fehler bei Neuer systemimmanent. Er nimmt ihn gewissermaßen in Kauf, um sein Spiel, das Spiel der Beschleunigung, spielen zu können. „Er will der Mannschaft helfen mit allem, was er einbringen kann“, sagt Matuschak.

Vor ein paar Monaten hat sich Bayerns Manager Uli Hoeneß zu der Frage geäußert, wer Jens Lehmann einmal in der Nationalmannschaft ablösen werde: „Infrage kommen drei Torhüter: Adler, Neuer und Rensing. Enke und wie sie alle heißen kann man vergessen.“ Vermutlich wird es noch eine Zwischengeneration geben, aber dass Neuer eines Tages Nationaltorhüter wird, bezweifelt kaum jemand. Im Herbst wurde er sogar schon zum Fitnesstest der Nationalmannschaft gebeten. Adler und Rensing nicht. Ein Hinweis? „Umsonst werden sie mich nicht eingeladen haben“, sagt Neuer.

Mehr noch als Adler und vor allem Rensing steht der Schalker für das Torwartspiel der Zukunft. Er hat den Stil von Jens Lehmann nicht einfach nur adaptiert; er hat dessen Spiel auf eine neue Qualitätsstufe gehoben. Er interpretiert es noch sehr viel klarer und zielstrebiger. Es ist gewissermaßen die Version Lehmann 2.0. Vor allem Neuers Abwürfe sind ein Ereignis. In Schalkes Spiel gegen Hertha BSC leitete er mit einem Wurf über 60 Meter den Konter ein, der letztlich zum entscheidenden Elfmeter führte. „Er hat eine schnelle Auffassungsgabe – weil er den Fußball begreift“, sagt Lothar Matuschak. „Er ist Fußballspieler.“

Als Manuel Neuer 1991, kurz vor seinem fünften Geburtstag, zum erstem Mal zum Training der Schalker F-Jugend kam, wollte er natürlich im Feld spielen, aber es gab gerade keinen Torwart. Er war der Neue, also musste er ins Tor. Wenn es nach Matuschak ginge, müsste es jedem Kind so ergehen wie Manuel Neuer bei seinem ersten Training: erst einmal ins Tor und das Spiel von hinten lernen. „Das ist eine gute Philosophie“, sagt er. Aber Matuschak weiß, dass das nur schwer durchzusetzen wäre. Die meisten Kinder wollen nun mal Kuranyi sein, Asamoah, früher auch Lincoln. „Obwohl …“ Matuschak überlegt. „Mittlerweile wollen viele Manuel Neuer werden.“

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