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Wer sich bei der Talentiade wie hier im Gewichtheben gut anstellt, wird von den Vereinen umworben.

© Engler/LSB

Schulsport: Talentiade in Berlin: Zeigt her eure Kinder!

Der organisierte Sport in Berlin hält an Grundschulen Ausschau nach Talenten. Das lässt Erinnerungen an DDR-Zeiten aufkommen.

Die meisten haben die Erfahrung schon früh gemacht: Die Sortierung im Sport, in Gut und in Schlecht. Wie fühlt es sich an? Triumphierend wohl für diejenigen, die zu den Auserkorenen gehören und zum Beispiel als Erste in eine Mannschaft gewählt werden. Frustrierend für die Übriggebliebenen, deren Scham mit jeder Wahlrunde zunimmt, in der mal wieder andere für befähigter gehalten werden. Und ist diese Einsortierung in jungen Jahren eine gute Vorbereitung auf das Leben?

Thomas Sonntag jedenfalls hält den kompetitiven Charakter des Sports grundsätzlich für eine gute Sache. Er steht an einem kühlen Wochenende in der Sporthalle des Werner-Seelenbinder-Sportparks in Neukölln und lehnt am Geländer ganz oben auf der Tribüne. Von dort hat er einen guten Blick auf das Durcheinander unten auf dem Spielfeld. Vor allem will er seine Tochter Leonie sehen.

Leonie gehört zu den Auserkorenen. Sie ist eines von hundert Grundschulkindern aus Neukölln, die es hierher geschafft haben, auf die Talentiade. „Ein bisschen stolz ist man als Vater schon“, sagt Sonntag. „Und wenn Ehrgeiz da ist, dann muss man ihn auch fördern.“ Seine Tochter ist in der dritten Klasse und absolvierte den sportmotorischen Test derart gut, dass sie neben zwei weiteren Schülern aus ihrer Klasse für die Talentiade nominiert wurde. Die 17 anderen Mitschüler wurden nicht eingeladen. Sie waren nicht gut genug.

„Berlin hat Talent“ heißt das Projekt, von dem auch die Talentiade ein Baustein ist. Gestartet ist es inoffiziell vor sechs Jahren, offiziell vor drei Jahren, wie Frank Schlizio erklärt. Schlizio ist Abteilungsleiter Leistungssport beim Landessportbund Berlin. Er sieht, wie Leonie und die anderen Kinder verschiedene Stationen absolvieren. Handball, Basketball, Volleyball, Rudern, Fahrrad, Leichtathletik, Zirkeltraining, Judo und sogar Ringen stehen in Neukölln auf dem Programm. „Wir wollen größer werden, wollen über den Projektstatus hinaus“, sagt Schlizio. Doch ob das mittlerweile sechs Jahre alte Projekt diesen Status jemals verlassen wird, das ist die große Frage. Denn bevor darüber entschieden wird, müssen zentrale sportpolitische, sportpädagogische, ja sogar sportphilosophische Fragen geklärt werden.

Auf den ersten Blick jedenfalls scheint die Talentiade eine gelungene Sache zu sein. Die hundert Kids im Werner-Seelenbinder-Sportpark sind mit geradezu rührendem Eifer bei der Sache. „Hat es euch gefallen?“, fragt Basketballtrainer Nicholas Behne. Und aus allen Mündern kommt ein lautes: „Jaaaa!“ „Habt ihr Bock auf Basketball?“ Wieder rufen alle: „Jaaaa!“ Ähnlich begeistert sind die überwiegend acht Jahre alten Kinder auch bei den anderen Stationen, selbst beim anstrengenden Zirkeltraining, bei dem sie zunächst sprinten und sich dann bäuchlings über eine Turnbank ziehen müssen.

Spaß und Freude statt Drill: Mit DDR-Zeiten hat das Projekt wenig zu tun.
Spaß und Freude statt Drill: Mit DDR-Zeiten hat das Projekt wenig zu tun.

© LSB/Engler

Die Teilnehmer in Neukölln bestätigen die bereits vorliegenden Ergebnisse des Projekts aus dem Schuljahr 2015/16, die sich mit den Worten von LSB-Präsident Klaus Böger am besten zusammenfassen lassen. „Man sieht, fast alle machen sehr gerne Sport in dem Alter“, sagt er. Über 7000 Drittklässler aus 122 Berliner Schulen waren im vergangenen Schuljahr auf ihre sportmotorischen Fähigkeiten untersucht worden. Zu den Disziplinen bei dem Test gehören unter anderem Ausdauerläufe, Sit-ups, Liegestützen oder Rückwärts-Balancieren.

Wer wie Leonie gut abschneidet, schafft es auf die Talentiade. Und wenn sich die Schüler dort bei verschiedenen Sportarten empfehlen, bekommen die Eltern Schreiben von Vereinen, die ihre Kinder zum Probetraining einladen. „Ziel ist es, dass es ein Matching gibt, dass ein Schüler sich für eine bestimmte Sportart als besonders geeignet herausstellt“, sagt Projekt-Mitarbeiter Jan Lesener. Laut der Hochschule für Gesundheit und Sport (HG), die das Projekt wissenschaftlich begleitet, konnte im vergangenen Jahr jeder zweite Teilnehmer einer Talentiade, der nicht bereits im Verein organisiert war, für eine Vereinsmitgliedschaft gewonnen werden.

Das Projekt soll aber nicht nur Talente dem Vereinssport zuführen, es hat noch einen zweiten Strang. Schüler, die im sportmotorischen Test unterdurchschnittliche Leistungen zeigen, können sportlichen Nachhilfeunterricht nehmen in Bewegungsfördergruppen. Im Vergleich zu den Talentiaden hält sich der Andrang darauf bisher in Grenzen. Schüler wie Eltern zeigen eine größere Motivation, bei den Wettkämpfen der Begabten teilzunehmen als bei den Bewegungsanleitungen für Durchgefallene. LSB-Präsident Böger ist dennoch begeistert von „Berlin hat Talent“. Sein Ziel ist, wie er sagt, „dass das Projekt auf alle Berliner Schulen ausgeweitet wird“. Er erfahre überall Zustimmung, mit wenigen Ausnahmen auch aus dem politischen Raum.

Kaschiert das Projekt die Mangelversorgung von Sportlehrern?

Wer sich bei der Talentiade wie hier im Gewichtheben gut anstellt, wird von den Vereinen umworben.
Wer sich bei der Talentiade wie hier im Gewichtheben gut anstellt, wird von den Vereinen umworben.

© Engler/LSB

Zu den vermeintlichen Ausnahmen zählt Anja Schillhaneck. Die Grünen-Politikerin im Berliner Abgeordnetenhaus stößt sich gleich an mehreren Punkten. So würde das eigentliche Ziel des Projekts, die Talentsichtung, unter dem Mantel einer umfassenden Bewegungsförderung versteckt. „Die Zahlen in diesen Bewegungsfördergruppen sind viel geringer. Es geht dem LSB vor allem darum, Talente zu finden“, sagt Schillhaneck. Und damit habe sie ein Problem. „Wenn, wie der LSB plant, jede Berliner Grundschule daran teilnehmen soll, löst das sozialen Druck bei Kindern wie Eltern aus“, sagt die ausgebildete Pädagogin. „Diese Kategorisierung in begabt und unbegabt hat nichts mit dem Ziel von Sport in diesem Alter, der Freude an Bewegung, zu tun.“ Schillhaneck hält eine enge Verbindung von Schule und organisiertem Sport für eine gute Idee und auch den Versuch des LSB, auf die schwindenden Mitgliederzahlen zu reagieren, für legitim. „Aber ‚Berlin hat Talent‘ ist nicht das richtige Instrument dafür“, sagt sie.

Doch nicht nur aus der Politik kommt Kritik, auch die Wissenschaft stößt sich an dem Projekt. Sportpädagogen, die nicht mit Namen genannt werden wollen, sehen darin nur ein weiteres Vorhaben, das die eklatante Mangelversorgung von Sportlehrern an Berliner Grundschulen kaschieren soll. Tatsächlich werden nur 50 Prozent des Grundschul-Sportunterrichts in Berlin von fortgebildeten Lehrkräften erteilt. Kooperationsprojekte von Senat und organisiertem Sport sind finanziell einfache Lösungen für die Berliner Politik, das Problem an der Oberfläche anzugehen. Im Falle von „Berlin hat Talent“ stören sich die Wissenschaftler aber vor allem an der exklusiven Ausrichtung. Sie sagen, dass Schulsport alle Kinder bewegen soll, nicht nur die begabten und die unbegabten.

Die sportliche Talentsichtung im Kindesalter ist in Deutschland, auch geschichtlich bedingt, umstrittener als in vielen anderen Ländern. In der DDR war Anfang der siebziger Jahre das sogenannte Einheitliche Sichtungs- und Auswahlverfahren (ESA) eingeführt worden. In allen Klassen wurden Schüler aus der ersten und vierten Klasse auf ihre Leistungspotenziale untersucht. Diese Potenziale wiederum ergaben sich aus umfangreichen koordinativen und konditionellen Tests sowie – was in der Rückschau besonders heikel erscheint – aus den Körpermaßen. Hatte ein Kind die geeigneten körperlichen Voraussetzungen, wurden mehr Zuteilungen als Empfehlungen für bestimmte, vorzugsweise medaillenintensive Sportarten wie Schwimmen oder Turnen ausgesprochen.

Der Wille des Kindes spielte dabei oft eine nachgeordnete Rolle. Der DDR gingen dadurch kaum Talente verloren, der Bundesrepublik dagegen bis heute sehr viele. Auf der anderen Seite: In der DDR haben vermutlich mehr Talente als in der Bundesrepublik früh die Lust am Sport verloren. Vorhaben wie eine landesweite Einführung einer Talentiade, die schon vom Klang her Erinnerungen an DDR-Zeiten mit ihrer „Spartakiade“ aufkommen lässt, werden daher sehr kritisch beäugt.

Jochen Zinner, Vizepräsident der Hochschule für Gesundheit und Sport, ist trotz des sportpädagogischen Ballasts aus vergangenen Zeiten unbeeindruckt. „Natürlich ist das ein ganz offener Gedanke, dass wir Talente für den Sport gewinnen wollen, dass wir frühzeitig an die Kinder rankommen wollen“, sagt er. „Die Begabtenförderung im Sport ist auch ein völlig legitimier Gedanke. In anderen Bereichen ist das auch nicht anders. Man muss Talente früh fördern, damit sie nicht abgehängt werden.“

Weht nun durch die Talentiaden DDR-Wind durch die Turnhallen? „Nein, bei uns findet keine Zuteilung, sondern nur eine Anregung statt“, sagt Zinner. Und auch LSB-Präsident Böger hält den DDR- Vergleich für „Unsinn. Wer das behauptet, der diffamiert jede Form der Bewegungsförderung. Wir wollen mit dem Projekt alle Kinder sportlich fördern, nicht nur die talentierten.“

Damit Böger sein Ziel der größtmöglichen sportlichen Förderung durch das Projekt erreicht, braucht er mehr Geld. Im Schuljahr 2016/17 kostet „Berlin hat Talent“ den LSB sowie andere Träger wie die Schul- oder Gesundheitsverwaltung mehr als 400 000 Euro. Das sind zwar Peanuts im Vergleich zu dem, was benötigt würde, wollte der Senat die Mangelversorung der Grundschulen mit ausgebildeten Sportlehrern ernsthaft angehen. Doch wenn Böger das Projekt in den insgesamt 400 Berliner Grundschulen durchziehen darf, wird auch das teuer.

Von all diesen sportpädagogischen und sportpolitischen Dingen versteht Leonie vermutlich noch nicht viel. Als sie nach der Talentiade von ihrem Vater geherzt wird, sieht sie sehr glücklich aus. In diesen Momenten möchte man nicht an „Berlin hat Talent“ zweifeln. Doch ist ihr Glück gleichbedeutend mit dem Unglück jener, die es nicht auf die Talentiade geschafft haben? Und ist es vielleicht auch völlig in Ordnung, dass sie sich freut über ihren sportlichen Erfolg, während andere Kinder traurig sind über ihr Scheitern?

Auch von den Antworten auf diese Fragen hängt ab, ob Klaus Böger das nötige Geld für sein Projekt zusammenbekommt.

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