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Schwimmen: Bodybuilder im Anzug

Neue Regeln verändern das Schwimmen: Power ist jetzt wichtiger als Technik.

Berlin - Der erste Versuch ging schief. Lennart Stekelenburg schlug erst nach 1:01,90 Minuten an. Das reichte beim Amsterdam-Schwimm-Cup über 100 Meter Brust nur zu Platz zwei. Stekelenburg schwamm allerdings in einem Anzug des Ausrüsters der holländischen Nationalmannschaft. Kurz darauf, am Ende der Wettkämpfe, sprang der Holländer nochmal ins Wasser, diesmal ganz allein, diesmal eingezwängt in den Anzug eines italienischen Herstellers. Stekelenburg schlug an und starrte verblüfft auf die Anzeigentafel. Und alle Experten in der Halle auch. 59,50 Sekunden, holländischer Rekord. Mehr als zwei Sekunden schneller als im Rennen zuvor.

Für Dirk Lange ist das der Beweis: „Den Einfluss des Materials kann man nicht mehr wegdiskutieren.“ Der Schwimm- Bundestrainer ist im Internet auf den Fall Stekelenburg gestoßen. Er sagt: „Der Schwimmsport erfindet sich gerade neu.“

Für Lange heißt das: Wie halten die Deutschen mit? Speedo hatte die Materialschlacht vor einem Jahr begonnen, Athleten im neuen LZR Racer pflügten in kurzer Zeit zu mehr als 100 Weltrekorden. Klare Vorgaben für die Anzüge gab es nicht, darum war die Aufregung groß, es gab einen erbitterten, fast ideologischen Streit. Der Weltverband Fina hat deshalb klare Regeln eingeführt. Jetzt ist die Materialdicke geregelt, die Kompression limitiert, die Anzüge dürfen die Sportler nicht mehr aktiv in der Bewegung unterstützen. Bisher wurden die Schwimmer in ihrer Neoprenhaut in die richtige Strecklage regelrecht reingedrückt. Und es dürfen keine zwei Anzüge übereinander getragen werden. Damit ein Sportler keinen zusätzlichen Auftrieb erhält.

Das Ende der Materialschlacht also? Keineswegs. Sie läuft jetzt nur nach Regeln. „Das ganze System ändert sich“, sagt Lange. Alle müssten jetzt umdenken, denn das neue Material verbessert, auch reglementiert, die Wasserlage. Je länger eine Strecke ist, umso stärker werden zum Beispiel die Beine entlastet. Stattdessen wird mehr mit den Armen gearbeitet. Das bedeutet, dass mehr Krafttraining gemacht werden muss. Die Anzüge korrigieren auch technische Mängel, der Athlet liegt von vornherein besser im Wasser. „Die Technik verliert an Bedeutung“, sagt Lange. Stilisten wie Alexander Popow werden zur Seltenheit. „Die Leute, die heute vorne sind, schwimmen technisch schlechter als Popow“, sagt Lange. Alain Bernard zum Beispiel. Der Franzose hat gerade den Weltrekord über 100 Meter Freistil verbessert. Bernard ist Bodybuilder im Schwimmanzug, zwei Meter groß, mit beeindruckenden Muskelbergen. „Der drückt sich bestimmt mit doppelt so viel Kraft ab wie Popow“, sagt Lange.

Kraft und Dynamik gewinnen an Bedeutung auf Kosten des reinen Schwimmens. Und dadurch kommen Lange Fragen. Zum Beispiel nach dem Sinn von Höhen-Trainingslagern. Die dienen eigentlich dem Konditionsaufbau. Lange hat nicht auf alle Fragen schon Antworten, er weiß nur: Mit den alten Trainingskonzepten kommt man nicht weiter. Nur sieht das nicht jeder so. „Gerade von älteren Trainern kommen große Widerstände.“ Es ist ja nicht alles falsch, sagt Lange, es muss bloß vieles angepasst werden. Wer wenig im Kraftraum war, müsse das ändern. Zudem hat sich das Renntempo gesteigert. Weil die Wasserlage besser ist, können Athleten auch auf der letzten Bahn ein relativ hohes Tempo gehen. Also muss man dieses Renntempo im Training simulieren. „Da lässt man halt nicht mehr drei mal 500 Meter schwimmen, sondern 30 mal 50 Meter“, sagt Lange.

Aber Änderungen kann man nicht einfach einführen. Sie müssen aufeinander abgestimmt werden. Wer im Kraftraum einfach nur mehr macht, gefährdet damit die optimale Wasserarbeit. Und wer höhere Renngeschwindigkeiten simuliert, muss wissen, dass die Erholungsphasen länger sind. Und was das Material betrifft: So einen Mythos wie um den LZR Racer wird es nicht mehr geben. „Die Unterschiede in der Qualität werden sich nivellieren“, sagt Lange. Aber in einem Punkt ist er sich genauso sicher: Das Material allein befördert keinen Athleten auf absolutes Weltniveau. Hartes Training ist immer noch der Kern des Sports: „Es nützt wenig, dass ein Anzug nicht untergeht, wenn man ihn aufs Wasser legt.“

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