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Max Kröber

© Mike Wolff

Seine Welt ist die Platte: Wie Tischtennis einem 17-jährigen Autisten hilft

Max Kröber ist Autist. Lesen kann der 17-Jährige nur mit Mühe. Doch im Tischtennis hat er es in zwei Jahren zum Nationalspieler geschafft – und sich die Welt neu erschlossen.

Peter Lenz hat eine grüne Plastikschale voll mit Bällen neben sich auf die Platte gestellt. Mit der rechten Hand hält er den Tischtennisschläger wie viele Asiaten, Daumen und Zeigefinger umklammern den Griff. Mit der linken Hand greift er vier, fünf Bälle auf einmal. Er muss ja immer zuspielen als Trainer, kurz, lang, mal links, mal rechts, und nun sagt er: „So, Max, jetzt spielst du die Rückhand mit Unterschnitt.“

Lenz spielt zu, Max Kröber geht leicht in die Knie, sein rechter Arm schnellt sichelartig nach vorne, der Ball knallt neben der Schale auf die Platte und kullert dann über den Hallenboden.

"Wow“, sagt Lenz.

Die nächsten Bälle, Kröber schlägt etwas weniger dynamisch, Lenz sagt: „Spiel ohne zu verkrampfen.“

Kröber nickt. „Wie beim ersten Ball.“

„Genau.“

Neun Platten stehen in der Trainingshalle des TTC Eastside in Prenzlauer Berg. Die Platte hinten links, die besetzt Lenz mit seinen Schülern, dem schlaksigen 17-jährigen Max Kröber und der 15-jährigen Lilia Palina. Zwei Platten daneben steht Irina Palina, die Eastside-Cheftrainerin. Lilia ist ihre Tochter.

Pause für Kröber, Lilia Palina ist dran. Der 17-Jährige lehnt an der Wand, ein Bein angewinkelt. Plötzlich löst er sich, weil er jemanden entdeckt hat. Lächelnd hebt er die Hand und grüßt kurz.

Trainingsalltag eines Jugend-Nationalspielers.

Eine Stunde später ist Max Kröber zu Hause, in einer anderen Welt. In dieser Welt isst er nur ganz bestimmte Nahrungsmittel in einer ganz bestimmten Reihenfolge mit einem ganz bestimmten Besteck. Auf einen Besuch beim Friseur muss ihn seine Mutter vier Wochen vorbereiten. Seit zwei Jahren arbeiten seine Eltern daran, dass Max sein Kinderbett verlässt und ein größeres Bett akzeptiert. Er war vier, als er erstmals zwei Worte sagte: „Ich will.“ Er ist seit zwölf Jahren in der Carl-von-Linné-Schule für Körperbehinderte und Lernschwache in Lichtenberg, kann aber immer noch nicht richtig lesen und schreiben. Wenn er liest, pickt er Worte raus, die er versteht, und versucht, den Sinn des Textes herzustellen.

Und manchmal redet er den ganzen Tag nicht mit seiner Mutter oder seiner Schwester. Die schreiben ihm dann WhatsApp-Nachrichten.

Max Kröber ist Jugend-Nationalspieler der Behinderten.

Der 17-Jährige ist Autist. „Ein High Function Autist, kein Asperger“, sagt seine Mutter Doreen. „Er hat ein hohes Funktionsniveau.“ Eine Art Inselbegabung.

Dies ist die Geschichte eines Jungen, der vor zwei Jahren eine Welt entdeckt hat, die ihn verwandelt. Die Welt heißt Tischtennis.

Trainer Lenz sagt: „Wenn man mir nicht erklärt hätte, dass er Autist ist, hätte ich es nie für möglich gehalten.“

Irina Palina sagt: „Ich glaube, der Arzt hat eine falsche Diagnose gestellt.“ Sie meint es nur halb im Spaß.

Sein früherer Klassenlehrer, sagt: „Die Schüler erleben einen neuen Max, seit er spielt.“

Doreen Kröber hat zehn Jahre als Streetworkerin gearbeitet, sie hat oft noch den rauen Unterton, den man in einer harten Szene benötigt. Doch jetzt ist ihre Stimme sanft und einfühlsam. Die 47-Jährige sitzt in einem Café und sagt: „Oft fragen mich Bekannte: Was hast du mit diesem Kind gemacht?“

Sie hat ihn zum Tischtennis gebracht.

Doreen Kröber stand selbst mal an der Platte, 2015 hatte sie vom Freizeit-Wettbewerb „Tischtennisturnier der Tausende“ gehört. Vielleicht ist das ja was für Max, dachte sie, ein Versuch ist es wert. Max hatte früher Fußball gespielt, für sich allein, nie im Team. Aber an Fußball hatte er irgendwann keinen Spaß mehr.

Dann sah sie ihren Sohn an der Platte, sie sah sein Ballgefühl, sie sah seine flüssigen Bewegungen, sie erkannte ein Talent.

Ein paar Monate später meldete sie ihn, nach ein paar Umwegen, bei Eastside an. „Aber Max ist Autist“, sagte sie gleich. Kein Problem, antwortete der Jugendleiter, wir versuchen es einfach.

Doch einfach ist im Leben eines Autisten ist nur sehr wenig. Der erste Besuch in der Trainingshalle endete auf der Eingangstreppe. Max Kröber hockte auf den Stufen und bewegte sich keinen Zentimeter. In der zweiten Woche betrat er zumindest den Vorraum der Halle. Nach vier Wochen ging er zum ersten Mal an eine Platte.

18 Monate später tippt die Mutter auf die Finger ihrer rechten Hand. Sie zählt die Erfolge ihres Sohns auf. Deutscher Vizemeister in der Jugend im Behindertensport, Wettkampfklasse II, intellektuell beeinträchtige Spieler, Einzelsieger bei einem Jugendländerkampf in Rostock. Max Kröber spielte sieben Turniere im Behindertensport, viermal gewann er im Einzel, zweimal wurde er Zweiter im Einzel. Dazu kommen noch drei Turniere mit Nichtbehinderten. Eines gewann er: das diesjährige „Turnier der Tausende“. Bei Eastside spielt er mit dem Jugendteam in der Landesliga, bei den Herren in der vierten Mannschaft. Seit November ist Max Kröber Mitglied der Jugend-Nationalmannschaft der Behinderten. Sein Ziel sind die Paralympics 2020.

Warum gerade Tischtennis? „Ich weiß es nicht“, sagt Doreen Kröber.

Im Büro von Irina Palina hat nur der Ventilator am Schreibtisch keinen Bezug zum Tischtennis. In Regalen stapeln sich eingeschweißte Trikots, Plakate mit Eastside-Spielen hängen an den Wand, auf einem Schrank stehen Pokale. Das Frauenteam von Eastside hat dreimal die Champions League gewonnen, die Russin Palina spielte jahrelang für den Klub.

„Die Fortschritte von Max sind fantastisch“, sagt sie. „Er spielt ja erst seit zwei Jahren.“ Sicher, „manchmal schlägt er eine Bombe, wenn ein Sicherheitsball reichen würde“. Aber das machen andere auch. „Und er lernt schnell.“ Vor allem aber redet er in der Halle mit den anderen. „Er ist voll integriert.“

Wird er bald Berlins Sportler des Jahres?

Ein paar Tage zuvor saß sie bei der Gala zur Wahl von Berlins Sportler des Jahres. Auf der Bühne nahmen die strahlenden Preisträger ihre Trophäen entgegen, und an ihrem Tisch ging Irina Palina ein Gedanke durch den Kopf. Tage später, in ihrem Büro erzählt sie, was sie dachte, und ihre Stimme wird dabei so weich wie ihr Blick. „Vielleicht steht Max bald mal auf dieser Bühne.“

Auf jeden Fall bewegt er sich in Richtung Bühne. Peter Lenz, der Trainer, sagt: „Seine Stärke ist das Angriffsspiel. Er ist sehr ehrgeizig.“ Lenz hat noch keine Übung erlebt, mit der er den Autisten Kröber überfordert hätte.

Aber die schmucklose Trainingshalle ist sicheres Gebiet für Kröber. Hier kennt er alle, das Licht ist hell, die Luft angenehm, der Lärm erträglich. Alles Faktoren, die im Leben des Tischtennisspielers Kröber eine extrem wichtige Rolle spielen. Denn in der Welt, in der er aufblüht, bewegt er sich ständig auch am Rande der Grenzüberschreitung.

Vor kurzem spielte er in Köpenick bei der Qualifikation zur Berliner Einzelmeisterschaft. 65 Teilnehmer in einer kleinen Halle, stickige Luft, Lärm. Für den Autisten Kröber eine Reizüberflutung, gegen die sich sein Körper wehrte. Zwischen seinen Spielen, im Vorraum der Halle, sackte Kröber in einen Sekundenschlaf.

Eric Duduc stand neben ihm, und als Max Kröber wieder aufwachte, gab er ihm Kaffee mit viel Zucker. Duduc ist Landestrainer des Berliner Behindertensportverbands, er arbeitet zudem für den Paralympischen Sportclub, bei dem Kröber auch trainiert. Duduc begleitet die Jugendlichen zu Turnieren.

Der Franzose sorgt dafür, dass Kröber die Turnier-Atmosphäre bewältigt. „Ohne Eric hätte er das alles nie erreicht“, sagt Doreen Kröber. In Köpenick erreichte Kröber sogar noch das Viertelfinale. Dort scheiterte er dann knapp.

Nach Kröbers Sieg beim „Turnier der Tausende“ zerrte Duduc den 17-Jährigen sofort aus der Halle, weil er befürchtete, dass das anschließende Gewusel eine Reizüberflutung sein könnte. „Max hat nicht Angst vor Spielen“, sagt Doreen Kröber, „aber vor den Bedingungen.“

In der Welt, in der Max Kröber aufblüht, betrachtet er stundenlang Spielzüge auf Youtube oder studiert Kataloge mit Tischtennisartikeln. Und wie sehr er sich in dieser Welt verändert, das kann man bei einem Treffen in einem Café in Charlottenburg beobachten, eine Stunde nach einer Trainingseinheit mit Duduc.

Seine Schwester, seine Mutter und der Coach sitzen am Tisch. Aber auch ein Journalist, den Kröber nicht kennt. Es geht um Tischtennis. Es ist ein Gespräch, bei dem man die Trainer Lenz und Palina versteht, wenn sie sagen, sie hätten allein nie gemerkt, dass dieser Jugendliche Autist ist. Denn Kröber redet höflich, aufmerksam, er blickt einem in die Augen, er antwortet schnell.

Was ist so faszinierend am Tischtennis? Kröber lächelt. „Die schnellen Ballwechsel“, sagt er. „Die Geschwindigkeit. Ich bin ein Speedjunkie.“

Das sagt er wirklich. „Speedjunkie.“

Dann klatscht er in die Hände. „Geil.“

Duduc sagt: „Max ist ein biomechanisches Talent.“

„Was für ein Talent?“, fragt die Mutter.

„Biomechanisch“, wiederholt ihr Sohn sanft.

Dann lächelt der 17-Jährige selig. „Wenn mich meine Schulkameraden an der Platte sehen, denken sie, sie hätten einen anderen Max vor sich.“

Aber auf dieses Gespräch mit dem Journalisten hat Doreen Kröber ihren Sohn sechs Wochen vorbereiten müssen.

Tischtennis hat auch den Menschen Kröber verändert. Sein früherer Klassenlehrer beobachtet ihn seit Jahren an der Schule. „In der achten Klasse, als ich ihn hatte, war er höflich, aber zurückhaltend und unsicher. Er hat sich immer rückversichert, ob alles okay ist.“ Jetzt arbeitet Kröber in der 10. Klasse auf die Erweiterte Bildungsreife zu. „Er ist viel selbstbewusster geworden.“

Erfolgreiche Schüler werden in der Linné-Schule auf einer Bühne ausgezeichnet. Max Kröber steht oft dort. Erst vor kurzem wieder. Sein Ex-Klassenlehrer hat ihn beobachtet. „Er hatte den Kopf oben und gelächelt. Früher hätte er das nie gemacht.“ Max habe auch eigenständig einen Platz für ein Betriebspraktikum gesucht. In einem Sportgeschäft werde er Kunden zu Tischtennisartikeln beraten. „Max“, sagt auch seine Mutter, „ist jetzt viel selbstbewusster, viel offener.“

Aber auch dieses Selbstbewusstsein hat Grenzen. Der 17-Jährige spielt bei Turnieren nur gut, wenn er sich aufs Spiel konzentrieren kann. Deshalb zählt er, wenn möglich, nicht selbst. Das soll der Gegner machen. Er redet auch nicht mit seinem Gegner und kann sich nicht immer auf dessen Spiel einstellen.

Dass diese Grenzen aber von der Umgebung abhängen, zeigt sich in der Halle von Eastside. Es ist kurz vor Trainingsende, und Lenz fragt: „Spielen wir bis elf?“ Kröber nickt. „Okay“, sagt Lenz. „Du zählst.“ Hier ist geschütztes Gebiet, hier kann Kröber entspannt spielen. Also zählt er mit, jeden Punkt.

Am Ende gewinnt er 11:8.

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