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Berührungsangst. Junge Sportlerinnen sind beim Training selten allein und zuweilen nicht mal in ihrer Umkleidekabine vor Übergriffen sicher.

© dpa

Sexueller Missbrauch im Sport: Griffe hinter der Grenze

Sexueller Missbrauch trifft im Sport auf günstige Umstände: Körperkontakt, Abhängigkeit, Gruppenzwang. Betroffene und Betreuer wollen nun eine neue Kultur in den Vereinen etablieren – und mehr Kontrolle.

Zehn Jahre waren die jüngsten Mädchen alt, als sie vergewaltigt wurden. Nun muss Regis de Camaret ins Gefängnis. Ein Gericht in Lyon verurteilte den Tennistrainer vergangene Woche zu acht Jahren Haft. De Camaret wurde des Missbrauchs und der mehrfachen Vergewaltigung schuldig gesprochen. Zwischen 1977 und 1989 hatte er sich im Internat Marres in Saint Tropez an den Mädchen vergangen. 27 ehemalige Schülerinnen bezichtigten den heute 70-Jährigen. Viele Jahre wurde geschwiegen, gegen den mächtigen Trainer erhob keine das Wort. In Frankreich gehörte de Camaret zu den renommiertesten Ausbildern; wer es im Tennis zu was bringen wollte, kam an ihm schwer vorbei.

Hohes Ansehen genoss auch Jerry Sandusky. An der Pennsylvania State University war er seit 1969 Footballtrainer, Spezialgebiet Defensive. Penn State ist in den USA dafür bekannt, hervorragende Abwehrspieler auszubilden, die später in der National Football League (NFL) als Profis Millionen verdienen. Sandusky gehörte zu den Initiatoren eines Programms für benachteiligte Jugendliche, die an der Uni Football spielen konnten. Vor einem Jahr flog auf, dass Sandusky von 1994 bis 2008 minderjährige Jugendliche missbraucht hatte. Der heute 68 Jahre alte Mann wurde verurteilt, ihm drohen bis zu 60 Jahre Haft. Die Unileitung wusste von den Vorgängen, vertuschte sie aber gezielt, um das Image der Hochschule zu wahren und für Sponsoren attraktiv zu bleiben.

Marres und Penn State sind nur zwei von vielen Fällen, bei denen der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen im Sport erst spät publik wurde – wegen der besonderen Abhängigkeitssituation der Athleten. „Im Leistungssport ist es für Betroffene schwierig, weil sie um ihre Karrieren fürchten. Viele schweigen lieber“, sagt Ursula Enders vom Verein „Zartbitter“. Die Frau mit den kurzen, schwarz gefärbten Haaren ist Traumatherapeutin, ihr Verein ist eine bekannte Anlaufstelle für Opfer sexueller Gewalt. Enders weiß um die Ängste und Sorgen – professionelle Sportler haben sich ihr im Laufe der Jahre genauso anvertraut wie Amateure. „Sport ist ein Bereich, in dem die Grenze schwer zu bestimmen ist, weil die Übergänge im ersten Augenblick kaum auseinanderzuhalten sind“, berichtet Enders. Gemeint sind die Abläufe bei der täglichen Trainingsarbeit.

Wann gibt ein Trainer einfach nur eine Hilfestellung bei einer schwierigen Übung, wo beginnt unsittliches Berühren? Bei den meisten Sportarten kommt es zu Körperkontakt. Potenzielle Täter haben es im Sport deshalb besonders leicht, wie Enders weiß: „Sie können sich leicht verteidigen, wenn es zu einer Konfrontation kommt. Bestimmte Griffe oder Berührungen werden dann als notwendig und sportspezifisch dargestellt.“

Einzelsportarten wie Turnen oder Eiskunstlauf gelten als besonders anfällig. Ein Vorurteil, sagt Expertin Enders. „Es gibt keinen Unterschied, egal ob Team- oder Einzelsportart, Turnen oder Fußball.“ Man müsse sich auch von der Vorstellung bestimmter Konstellationen lösen. „Es sind nicht immer die Trainer, die sich an Kindern vergreifen“, sagt Enders. „Es kommt auch innerhalb von Mannschaften zu Übergriffen unter Gleichaltrigen. Oder ältere Jugendliche üben Gewalt an jüngeren Jahrgängen aus.“

Enders hält es für wichtig, dass gerade im Sport bestimmte Grenzen geachtet werden, auch wenn das den Bruch mit Traditionen zur Folge hat. Etwa beim Eishockey. Die Therapeutin berichtet von einem verbreiteten Aufnahmeritual, bei dem Spielern vor versammelter Mannschaft der Genitalbereich rasiert wird. Beim Übergang von den Junioren zu den Männern sei das üblich. „Die jungen Spieler wollen dazugehören und lassen dieProzedur über sich ergehen. Dabei gehen solche Rituale eindeutig zu weit“, sagt Enders. Gruppenzwang, Abhängigkeiten und Leistungsdruck fallen oft zusammen.

Kinder und Jugendliche schweigen lieber, um nicht verstoßen zu werden

Bei den Amateuren wirkt nicht der Leistungsdruck, sondern die soziale Komponente. Anders als im Profisport hängt ein großer Teil des Familienlebens oder der Freizeit mit dem sportlichen Umfeld zusammen. Kinder oder Jugendliche verschweigen dann lieber etwas, um nicht ausgestoßen zu werden. Schließlich spielen die Freunde im eigenen Verein.

Aus diesem Grund überlegte Sigrid Kumberger 2001 Tag und Nacht, was sie tun sollte. Ihre beiden Söhne, sechs und acht Jahre alt, spielten damals Eishockey in der Jugendabteilung der Star Bulls Rosenheim. Ein Klub mit großer Tradition, dreimal Deutscher Meister in den Achtzigern. Eine bayerische Institution. Lange merkten die Kumbergers nichts. Dass der jüngste Sohn nach dem Training nicht mehr duschen wollte, geschenkt. Welcher Sechsjährige duscht schon gern? Erst durch die Bemerkung einer anderen Mutter wurde Sigrid Kumberger aufmerksam. Immer wieder fragte sie bei ihren Kindern nach. Bis die ihr erzählten, dass der Trainer sich unter der Dusche vor der Mannschaft selbst befriedige. Kumberger war geschockt, erst recht als sie merkte, dass andere Eltern von den Vorfällen wussten und die Sache abtaten. „’Eishockey ist halt ein harter Sport’, bekam ich zu hören“, sagt Kumberger. Der Trainer war bei Team und Eltern sehr beliebt. Kumberger wandte sich an den Verein. „Vom Vorstand wurde aber nur ein halbherziges Duschverbot ausgesprochen, kurz darauf gab es von anderen Eltern sogar eine Unterschriftenliste, dass der Trainer wieder mit den Kindern duschen darf“, erzählt Kumberger. Später wurde sie vom Verein mit einem Stadionverbot belegt. „Mir wurde gesagt: Wir wollen den Schmutz nicht im Eisstadion haben.“ Bande mit anderen Eltern zerbrachen. Ihre Kinder hatten ihren kompletten Freundeskreis im Klub, Kumberger nahm ihre Söhne am Ende trotzdem aus dem Team. Beide traten nie wieder einem Sportverein bei.

Inzwischen sind die Hilfsangebote für Betroffene vielfältig. Wer heute zum Thema googelt, bekommt mehrere hunderttausend Antworten. In Vereinen und Verbänden hat sich die Sensibilität erhöht. „Es passiert was, Vereine und Vorstände melden sich bei uns, fragen, was sie tun können, um Kinder und Jugendliche zu schützen“, erzählt Enders. Bei „Zartbitter“ sei man mit der Zusammenarbeit zufrieden, doch der Kampf gegen das Schweigen geht weiter. Immer noch ist nur schwer zu sagen, wie hoch die Dunkelziffer der Missbrauchsopfer ist, weil viele noch immer Angst haben, offen zu reden.

Das weiß auch Gerd Liesegang. Der Vizepräsident des Berliner Fußball-Verbandes sagt: „Es gibt immer noch Fälle, die nie ans Licht kommen.“ Mit den Fortschritten der letzten zwei, drei Jahre ist er trotzdem zufrieden. Die Vereine sind heute vom Verband angehalten, sich ein polizeiliches Führungszeugnis zeigen zu lassen, wenn sich ein neuer Trainer um eine Stelle bewirbt. „Sechzig Prozent der Klubs halten sich inzwischen daran“, sagt Liesegang.

Inzwischen sind die Vereine auch untereinander besser vernetzt. Vor drei Jahren berichtete der Tagesspiegel über den Fall eines Jugendtrainers, der stetig zwischen Klubs in Berlin und dem westdeutschen Raum pendelte und immer wieder Kinder missbrauchen konnte. So etwas sei inzwischen nicht mehr so leicht möglich. „Die Eltern passen ebenfalls auf“, sagt Liesegang, der glaubt: „Die Szene ist dadurch verunsichert.“ Potenzielle Täter müssten nun mit mehr Vorsicht von allen Seiten rechnen. Genau das hätte Regis de Camaret und Jerry Sandusky ihr Handeln vor vielen Jahren erschwert. Hätte.

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