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Olympia unter Beobachtung: Nichts, was in Sotschi nicht überwacht wird. Im Kaukasus wurden die strengsten Sicherheitsmaßnahmen in der Geschichte Olympias vollzogen.

© dpa

Sicherheitsspiele von Sotschi: Olympischer Geist hinter Gittern

Die Olympischen Winterspiele 2014 haben begonnen. In Sotschi finden sie in einem Hochsicherheitstrakt statt. Und sind ein Politikum. Mehr als jemals zuvor.

Patrouillierende Soldaten der russischen Armee gehören zum Stadtbild von Sotschi. In diesen olympischen Tagen mehr als sonst. Gefühlt ist jeder Zweite, der rund um die Olympiastadt und ihre Austragungsorte in den Bergen von Krasnaja Poljana über die Wege und Straßen läuft, ein Sicherheitsmensch. Und wer immer einen Bahnhof, ein Hotel oder auch nur einen Supermarkt betreten möchte, muss vorher durch ein Detektorentor schreiten. Alles wird gescannt, jede Cola-Flasche ist spätestens nach 500 Metern einmal untersucht worden. Die Olympischen Winterspiele im Kaukasus finden in einem Hochsicherheitstrakt statt. Der olympische Geist, sofern es ihn noch gibt, wabert hinter Gittern. Was die Öffentlichkeit jetzt beschäftigt, ist für die Hauptdarsteller nichts Neues. „Das war schon vor vier Jahren in Vancouver so“, sagt der Berliner Eisschnellläufer Samuel Schwarz, „da sind wir auch nur von Sicherheitsblase zu Sicherheitsblase gehüpft.“

Olympische Spiele. Spiele der Weltjugend, Spiele des Friedens. In der Antike gab es Kriegspausen zwischen den Teilnehmern während Olympia, die moderne Welt aber hat keine Zeit mehr für Waffenstillstand. Terroristen sind eben keine Verfechter soldatischer Ehrenkodexe. Die Olympischen Spiele haben spätestens seit dem Anschlag von München 1972 ihren letzten Rest von rein sportlicher Friedensillusion verloren, die Politik spielt vor und während der 16 Tage Olympia mindestens eine genauso große Rolle wie der Sport. Und sie wird die, das zeigt sich dieser Tage in Sotschi, wohl auch weiterhin spielen. Die globale politische Entwicklung spricht dafür: Politische Aktionen und militärische Operationen der Weltmächte ziehen zuverlässig Reaktionen nach sich. Und jede Vergabe von Olympischen Spielen ist ein Politikum, spätestens seit 1936 die Nazis den olympischen Geist missbrauchten.

Als politische Bühne wurden Olympische Spiele der Nachkriegszeit schon 1968 in Mexiko Stadt genutzt. Das Siegerpodest wurde zum Protestpodest für die beiden afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos. Während der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf ließen Sieger Smith und Bronzemedaillengewinner Carlos demonstrativ die Köpfe hängen, als die US-amerikanische Hymne gespielt wurde und reckten ihre mit schwarzen Handschuhen überzogenen Fäuste in die Höhe. Dieses Bild des „Black Pride“ ging um die Welt, es wurde zu einer der bekanntesten Protestaktionen des 20. Jahrhunderts. Der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) Avery Brundage stufte den Protest als politische Demonstration ein. Er setzte seine Forderung, beide Sportler aus ihrem Team zu entfernen, durch.

Spätestens in Berlin 1936 verlor Olympia seine Unschuld

Dabei war es eine gut gemeinte Protestaktion. In Sotschi wäre es möglicherweise vorstellbar, dass ein Athlet die Regenbogenfarben in irgendeiner Form zeigt, um gegen die Gesetze gegen Homosexuelle in Russland zu demonstrieren. In seiner Autobiografie schreibt Olympiasieger Tommie Smith: Der Gruß sei nicht der Black-Power-Gruß gewesen, sondern ein Gruß für die allgemeinen Menschenrechte.

Olympia hatte aber nicht erst 1968 seine politische Unschuld verloren. Federführend in negativer Hinsicht war das NS-Regime. Adolf Hitler inszenierte die Spiele von Berlin 1936. Die Nazis spielten immer mit, das deutsche Team gewann die meisten Medaillen: sportliche Siege als Demonstration der Macht. Vor einer Kulisse, die mit der deutschen, von Antisemitismus geprägten Realität des Jahres 1936 nichts mehr zu tun hatte. Und Avery Brundage spielte auch schon mit: 1936 salutierte der Amerikaner als Präsident des Olympischen Komitees der USA in Berlin, wann immer es die Nazi-Etikette erforderte, mit dem Hitlergruß. Es habe sich zu dieser Zeit um einen „nationalen deutschen Gruß gehandelt“, sagte Avery Brundage später einmal etwas kleinlaut.

Olympia blieb politisch. 1948 durfte Kriegsverlierer Deutschland in London nicht antreten. Besonders die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands – Großbritannien, die USA und Frankreich – hatten kein Interesse an einer Teilnahme Deutschlands, die zudem an den Statuten scheiterte.

Bis 1972, bis München war es allerdings noch ein weiter Weg, bis dahin hatte die politische Weltlage die Ausrichtung der Spiele noch nicht so stark beeinflusst. Doch seit den Spielen von München ist alles anders. Mitglieder einer palästinensischen Terrororganisation stürmten das Quartier der israelischen Mannschaft und nahmen elf Geiseln. Zwei davon starben bei der Geiselnahme, die anderen neun bei dem Befreiungsversuch der deutschen Behörden. 17 Menschen kamen insgesamt in München ums Leben. Olympia wollte sich dem Terror nicht ergeben. Der umstrittene IOC-Präsident Brundage sagte seinen berühmten Satz: „The games must go on.“ Willi Daume, Präsident des Organisationskomitees, sagte später: „Es ist schon so viel gemordet worden, wir wollten den Terroristen nicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“

Seit München '72 sind die Olympischen Spiele kein Spiel mehr

Doch die Spiele waren nach München längst kein Spiel mehr. Zweimal wurden sie Opfer des Ost-West-Konfliktes: 1980 boykottierte fast die gesamte westliche Welt, angeführt von den USA, die Sommerspiele von Moskau – aus Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan. Seit dem Fernbleiben der Mannschaften aus Spanien, der Schweiz und den Niederlanden bei den Spielen 1956 in Melbourne als Antwort auf die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch die Sowjetunion hatte sich der Boykott von Sportveranstaltungen als politisches Mittel etabliert. Vieles wurde besonders zwischen den Fünfziger- und Neunzigerjahren boykottiert, die Russen und fast der gesamte Ostblock revanchierten sich 1984 mit ihrer Nichtteilnahme an den Sommerspielen von Los Angeles für den von den USA angeführten Boykott von 1980.

„Damals sind Brücken abgerissen worden“, sagte der russische Botschafter in Deutschland unlängst bei einem Empfang von deutschen Olympiafahrern in Berlin. Wladimir Gridin behauptete, „dass das auch die Menschen in den USA heute so sehen“. Die Abkehr der globalen Großmächte vom groß angelegten Boykott ist allerdings eng mit der politischen Entwicklung verknüpft. Mit dem Fallen der Grenzen zwischen Ost und West verschob sich das Konfliktgefüge. Nun sabotieren und bedrohen andere Mächte die Spiele – nicht mit sportlichem Boykott, denn das würde die Weltmächte kaum beeindrucken, zumal sie auch die sportlichen Weltmächte sind. Die letzten friedlichen Spiele erlebte die Welt wohl 1994 in Lillehammer, nach den Winterspielen von Norwegen kam der olympische Geist in den Hochsicherheitstrakt.

Bei einem Bombenattentat in Atlanta 1996 starben zwei Menschen, 111 wurden verletzt. Das Attentat wurde zunächst fälschlicherweise einem Wachmann angelastet, der sich angeblich durch das Entdecken einer selbst gelegten Bombe zum Helden aufspielen wollte. Verübt hatte den Anschlag allerdings ein US-amerikanischer Bürger: Eric Rudolph. 1998 übernahm er im Namen der Terrororganisation „Army of God“ die Verantwortung für das Attentat. Nach dem Bekunden des bekennenden Antisemiten war es ein Anschlag gegen das „Regime von Washington“. Für das damals sicherheitsvernarrte Amerika war der Angriff auf die eigene Sicherheit der Sommerspiele eine nicht erwartete Niederlage. Umso mehr, weil der Organisationschef Billy Payne vorher getönt hatte: „Atlanta ist während der Spiele der sicherste Ort des Planeten“.

Nach 9/11 überwachten Kampfjets die Winterspiele in Salt Lake City

Tatsächlich war es eher der hysterischste Ort des Planeten, der spielend leicht zu knacken war. So umging ein damals beim „Spiegel“ angestellter Tagesspiegel-Redakteur alle Sicherheitschecks, durchlief eine lächerliche Aufnahmeprüfung und ließ sich bei einem Wachunternehmen als „Security Officer“ anstellen. Anschließend marschierte er, obwohl nicht akkreditiert und nur ausgestattet mit einer eher operettenhaften Uniform ungehindert durch alle für die Öffentlichkeit gesperrten Bereiche.

Bei den Spielen danach war das Aufgebot an Sicherheitskräften von vorneherein größer, seit Atlanta sind die Maßnahmen stetig ausgeweitet worden. Im Jahr 2000 in Sydney wurden als Konsequenz aus der Entdeckung eines Waffenlagers Monate vor den Spielen Anweisungen zur Abwehr chemischer Waffen erteilt. Australien organisierte seine Sicherheitsdienste neu und führte rigorose Einreise- und Einfuhr-Gesetze ein. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA bildeten bei den folgenden Winterspielen Flugzeuge, Kampfjets und Hubschrauber einen Schutzschirm am Himmel über Salt Lake City. 15.000 Spezialkräfte der Armee bewachten das olympische Dorf und das Pressezentrum.

Auch zwei Jahre später in Athen wurde bei den Sommerspielen viel in die Terrorismusabwehr investiert: 1,5 Milliarden Dollar kostete das Sicherheitspaket für 2004. In Peking demonstrierte die Staatsmacht 2008 Stärke: Neben Militär und Polizei halfen 1,5 Millionen sogenannte Freiwillige beim Beschützen der Sommerspiele. Als aus der fernen Region der uigurischen Minderheit 16 Opfer des Terrors gemeldet wurden, zogen vor dem olympischen Dorf und dem IOC-Hotel Panzer auf.

Rund um Sotschi sind 70.000 Polizisten und Geheimdienstler im Einsatz

Die Präsenz von Polizei und Militär ist seit Peking offensichtlicher geworden: 2010 in Vancouver bei den Winterspielen patrouillierten Polizisten in großen Mannschaften durch das olympische Dorf, bei den Londoner Sommerspielen 2012 bewachte ein Panzer das internationale Pressezentrum, und in der Themse lag ein Kriegschiff der britischen Marine vor Anker. Zudem wurden die Journalisten im Pressezentrum von Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg beschützt.

Auch in Sotschi demonstrieren die Gastgeber ihre Kontrollmacht. Rund um die 300.000-Einwohner-Stadt Sotschi sind 70.000 Mitarbeiter von Polizei und Geheimdiensten im Einsatz, darunter die auf Terrorismusbekämpfung gedrillte Sondereinheit Afa. Die ganze olympische Region ist auch bei Nacht taghell illuminiert. Die Bahnstrecke von Sotschi nach Krasnaja Poljana – rund um das Retorten-Bergdorf finden die Ski- und Rodelwettbewerbe statt – ist auf über 50 Kilometern durchweg beleuchtet. Verstecken im Dunkeln kann sich da niemand.

Schon im Vorfeld gab es viele Drohungen zu Olympia in Sotschi

Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und Chef de Mission des deutschen Teams in Sotschi, findet selbstverständlich, was rund um Sotschi passiert. „Die Russen haben hier die Sicherheit zu garantieren“, sagt der ehemalige Politiker der Grünen. Wladimir Putin treffe zwar auch die Schuld an der Situation um Sotschi, aber der Fehler liege beim Internationalen Olympischen Komitee. Das IOC hätte die Spiele erst gar nicht in so eine unsichere Region wie die im Kaukasus vergeben dürfen, sagt Vesper.

Bedrohungen und Drohungen rund um die Spiele von Sotschi gibt es viele. So haben radikale Muslime aus der nordkaukasischen Region mit Entführungen von Sportlern gedroht – auch das deutsche Team erhielt einen Drohbrief. Was die Situation in Sotschi so speziell macht, ist die geopolitische Lage. Tschetschenien ist kaum 1000 Kilometer entfernt. Seit Jahren ist Russland dort mit muslimischen Extremisten mehr oder weniger im Kriegszustand.

Am Freitagabend gab es während der Eröffnungsfeier tatsächlich eine ernsthafte Situation. Ein Mann hatte unter Androhung einer Sprengstoffexplosion versucht, ein türkisches Linienflugzeug nach Sotschi zu entführen. Doch sein Plan wurde vereitelt, ein Kampfjet zwang die Maschine zur Landung.

In den USA gibt es inzwischen täglich Meldungen über mögliche Anschläge in Sotschi. Nach jüngsten Informationen der Geheimdienste droht die Gefahr, dass Bombenteile in Zahnpastatuben per Flugzeug nach Sotschi geschmuggelt werden könnten. Zudem sei es wahrscheinlich, dass nicht im Zentrum der Stadt am Schwarzen Meer, sondern eher außerhalb von Sotschi regionale Verkehrsmittel Ziele von Anschlägen sein könnten – so wie beim Doppelanschlag vor einigen Wochen in Wolgograd, bei dem mehr als 30 Menschen starben. Die Angst vor Anschlägen in den USA scheint mindestens so groß zu sein wie in Russland. Die US-Navy hatte schon im Januar zwei Kriegsschiffe ins Schwarze Meer fahren lassen. Zurzeit kreuzen sie in internationalen Gewässern, für den Notfall gibt es aber eine Absprache mit der russischen Regierung: Dann dürften die amerikanischen Schiffe die russische Küste anlaufen und US-Sportler und andere amerikanische Olympia-Fahrer aufnehmen.

Die Sportler leiden besonders unter den Sicherheitskontrollen

Derartig umfassend wird die deutsche Mannschaft in Sotschi nicht umsorgt. Allerdings ist auch beim deutschen Team Kontrolle wichtiger als Vertrauen – etwa im „Deutschen Haus“ von Krasnaja Poljana. Die überdimensionale Holzhütte, in der die deutsche Delegation Empfänge und Pressekonferenzen abhält, überwachen zwölf deutsche Polizeibeamte. Die Sicherheitsprozeduren für Besucher sind lästig und langwierig: Wer rein will, muss durch ein Detektorentor, wird dann noch mal abgescannt, muss sich noch einmal zusätzlich akkreditieren und dann durch ein Drehkreuz.

Beim Zugang ins olympische Dorf verhält es sich ähnlich: Es bleiben am Ende vor allem die Sportler, die unter den vielen Kontrollen bei den eigentlichen Spielen und rund um die Spielstätten leiden. Eisschnellläufer Samuel Schwarz sagt: „Das ist doch bitter, du hast jahrelang auf Olympia hingearbeitet und dann hast du die ganze Zeit die Politik im Kopf. Wie soll man sich da als Sportler ordentlich auf den Sport konzentrieren?“

Bis Sotschi gab es bei Olympia zwei Anschläge, die Menschenleben gefordert haben: München 1972 und Atlanta 1996. Dass es dazwischen 1994 ein Lillehammer gab, heißt heute nicht mehr viel: Das Bild vom romantisch-lieben Norwegen wurde 2011 von einem Amok laufenden Massenmörder zerstört. Das Bemühen um die Sicherheit bei Olympischen Spielen ist inzwischen nicht nur ein Kampf gegen Terroristen. Es ist auch das Bemühen, den friedlichen Sport von der unfriedlichen Welt abzuschotten. Ein vergebliches Bemühen. Und das können die Olympischen Spiele nicht erreichen. Erst muss sich die Welt ändern, damit Olympia seinen Frieden bekommen kann.

Der olympische Geist wird also hinter Gittern bleiben.

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