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Sport: Siegen macht lustig

Auch die EM wurde in Deutschland als Gemeinschaftserlebnis empfunden

Die Weltmeisterschaft rief in Deutschland ein „Sommermärchen“ hervor. Ein friedlich wogendes Fahnenmeer überflutete Städte, Straßen und Stadien. Die Fans zeigten Flagge. Die eigene Mannschaft wurde bejubelt, die gegnerische nicht ausgepfiffen. Ein entspannter, nicht „von oben“ verordneter Patriotismus kehrte ein, kein gespannter Nationalismus. Der unverkrampfte Umgang gerade der Jugend mit nationalen Symbolen überraschte.

Im Vergleich dazu sind die gesellschaftspolitischen Auswirkungen der EM auf Deutschland geringer, obwohl die Mannschaft besser abgeschnitten, aber nicht besser gespielt hat. Erstens handelte es sich „nur“ um eine EM, zweitens fand sie nicht im eigenen Land statt, sondern nur in Österreich und der Schweiz. Drittens schließlich war 2008 nur ein „Aufguss“ der als überraschend empfundenen Euphorie von 2006.

Gleichwohl: Was 2006 an Aufbruchstimmung entstand, war keineswegs etwas Einmaliges. So gut wie niemand mokierte sich über das Singen der Nationalhymne – bei Spielern wie bei Zuschauern. Antideutsche Positionen waren ebenso klar in der Minderheit wie fanatische Nationalisten. Das emotionsträchtige Spiel der Deutschen gegen die Türkei rief keine größeren Ausschreitungen hervor. Die Fans beider Seiten wussten: Es ging um Fußball, um mehr nicht. Kaum einer sprach gehässig von den „Türken vor Wien“. Die Frage, ob die Türkei in die EU gehöre, stand in Basel nicht zur Diskussion. Unideologisch wurde die Frage erörtert, ob die Erfolge der Mannschaft mit deutschen Tugenden wie Disziplin, Kampf und Planung zu erklären seien oder im Gegenteil eher mit Eigensinnigkeit, Esprit und Emotion. Noch bei der WM im Jahr der Wiedervereinigung 1990 war der Stolz auf die deutsche Elf nicht annähernd so groß.

Die Gründe für den Wandel sind vielfältig. Die nach wie vor präsente Zeit des „Dritten Reiches“ liegt nun zwei Generationen zurück. Der größere Abstand führt nicht zu einem Vergessen der nationalen Schande, wohl aber zu einer stärkeren Hinwendung zur Gegenwart und zur Akzeptanz des Satzes, Deutschland habe seine Lektion gelernt. Die deutsche Einheit stärkte ungeachtet vieler Probleme nationales Selbstbewusstsein. Der Regierungswechsel von 1998 zu Rot-Grün trug zur Aussöhnung der 68er mit ihrem Staat bei. Das Kennenlernen anderer Länder durch die Jugend ruft Nachahmungseffekte hervor. Schließlich ist für ein (faktisches) Einwanderungsland wie die Bundesrepublik Verbindendes wichtig, etwa sportlicher Patriotismus.

Schwer zu ermessen ist, welche Deutung Schlüsselszenen erfahren, so wie das Foul von Michael Ballack (vor seinem Tor zum 3:1 gegen Portugal stieß er den Gegenspieler weg). Die Unsportlichkeit blieb merkwürdig unterbelichtet: Entweder galt Ballacks Verhalten gleichwohl als mehr oder weniger regelgerecht oder des Torschützen Raffinesse gar als rühmenswertes Zeichen von Cleverness. Kann sich über den Sport hinaus nicht die Meinung einschleichen, wer Erfolg haben will, dürfe zu unlauteren Mitteln greifen? Der Zweck heiligt nie die Mittel. Hier haben Fernsehreporter und Analytiker nicht hinreichend gegengehalten.

Wie Soziologen herausgefunden haben wollen, steigt die empfundene Lebensqualität der Deutschen nach einem gewonnenen Fußballspiel. So könnte stärker Optimismus im Land um sich greifen. Denn in Deutschland ist die Lage bekanntermaßen besser als die Stimmung. Ein geselligeres Volk ist ein zufriedeneres Volk. Langfristig ließe sich auf diese Weise Individualisierung stoppen. Vielleicht nimmt so die Hilfsbereitschaft zu, das Engagement für ehrenamtliche Tätigkeiten, der Gemeinsinn. Welche Tiefenströmungen eine EM hinterlässt, ist im Einzelnen schwer auszumachen. Fördert die Leistung der deutschen Mannschaft die Akzeptanz von Leistung an sich?

In einer globalisierten Welt suchen Menschen Gemeinschaftserlebnisse. Im Gegensatz zu heute gab es früher „Straßenfeger“ (wie etwa ein Krimi von Durbridge). Damit lässt sich auch die Zunahme von Public Viewing erklären. Spitzenfußball, bei dem jeder mitreden zu können glaubt, ist ein Kollektivereignis, es schweißt zusammen. Ob sich Einheimische und Immigranten dadurch näher kommen? Und geht die Hoffnung von Spitzenpolitikern auf, sie mögen vom Glanz des Fußballglücks profitieren?

„Bern 1954“ – das war für Deutschland zum Teil identitätsstiftend, auch wenn im Nachhinein vieles verklärt wurde. „Wien 2008“, das ist für Deutschland wohl nur eine Fußnote. Normalisierung hält Einzug. Der Streit um nationale Symbole wie der Nationalhymne dürfte der Vergangenheit angehören. Der als „unverdächtig“ geltende Sport hat den Boden dafür bereitet. Kaum einer regt sich über eine Deutschlandfahne auf. Und das ist gut so.

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