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Sport: So viele sauber?

Anhörungen im niederländischen Radsport ergeben, dass bis zu 95 Prozent aller Profis gedopt haben.

Berlin - Neun von zehn Radprofis haben gedopt. Das ergab die Auswertung der Anhörungen vor einer Wahrheitskommission im niederländischen Radsport. „Wir zogen aus den Interviews mit früheren und aktuellen Profis sowie Angestellten der Teams die Schlussfolgerung, dass es zwischen 80 und 95 Prozent gewesen sein müssen. Wir können das nicht wirklich beweisen. Wir denken aber, dass das im Großen und Ganzen die Wahrheit ist“, sagte Winnie Sorgdrager, frühere Justizministerin der Niederlande und Vorsitzende der Kommission. Sie war von dem Ausmaß des Dopings nicht einmal erstaunt. „Wenn man die Zeitungen liest und dieses ganze Konzept kennt, dann ist man nicht überrascht. Aber wenn man es direkt aus dem Mund der Leute selbst erfährt, ist das schon eine ganze Menge“, gab sie zu.

Das Erschrecken hielt sich auch bei Branchenkennern in Grenzen. Marcel Wintels, Präsident des holländischen Radsportverbands, wertete den Bericht als „ehrlichen, realistischen, aber auch schmerzhaften Einblick, wie weit verbreitet Doping im Radsport war“. In Holland geht man davon aus, dass die Zahlen repräsentativ für den gesamten Radsport zumindest in der Hoch-Epo-Phase sind. Laut Leistungsberechnungen des Sportwissenschaftlers Antoine Vayer – der frühere Festina-Betreuer wandelte sich zum entschlossenen Antidopingkämpfer – beginnt diese Phase bei Miguel Indurains viertem Toursieg 1994 und geht bis in die Mitte der Armstrong-Ära. Der Anfang ist gekennzeichnet von einem Sprung von 406 Watt bei der Tour 1993 auf 435 Watt im Folgejahr. Das Ende der Hochdopingphase darf man auf 2002, das Jahr der Einführung des Epo-Tests, legen. Laut Vayers Berechnungen sank da Armstrongs durchschnittliches Leistungsniveau bei der Tour von 438 Watt (2001) auf 417 Watt. Danach wurde dennoch munter weiter gedopt, wie etwa die Aussagen bei der Ermittlung der US-amerikanischen Antidopingorganisation (Usada) gegen Armstrong und Co, die Telekom-Affäre sowie die Fuentes-Affäre bestätigen. „Wegen der neuen Antidoping-Instrumente nahm aber das Ausmaß ab“, schilderte Sorgdrager ihre Eindrücke aus den Befragungen. „Der Gebrauch ist zurückgegangen, aber es sind nicht weniger Leute geworden, die das tun, wenn Sie mich verstehen“, warnte sie. „Es wird immer noch Epo genommen und jeder weiß das.“

Der Abschlussbericht der holländischen Wahrheitskommission sollte vor allem Antidopingjäger aufschrecken. Denn positive Dopingkontrollen lagen in dieser Zeit im Promille-Bereich. Selbst aus den Langzeitstatistiken der Analytik ließ sich bisher nur ein Dopingmissbrauch von rund zehn Prozent aller Profis herauslesen.

Laut einer Studie des Antidopingbeauftragten des Radsportweltverbands UCI, Mario Zorzoli, aus dem Jahre 2010 wiesen bis zur Einführung des Epo-Tests im Jahre 2002 lediglich zehn bis elf Prozent aller Blutproben einen stark erhöhten Gehalt von Retikulozyten auf. Das ist ein Hinweis auf Epo-Missbrauch. Für die Jahre danach belegen die Daten einen Wechsel hin zum Doping durch Bluttransfusionen. Dies schlägt sich aber nur in sechs bis zehn Prozent der Blutproben nieder. Das zeigt, wie gut Doper den Zeitpunkt von Epo-Einnahmen und Bluttransfusionen auf die Kontrollfenster abstimmen konnten.

Bei Branchenkennern lösten die Zahlen der Wahrheitskommission aus den Niederlanden vor allem Anfälle von schwarzem Humor aus: „So viele waren sauber? Jetzt interessiert mich ja, wer zu den ehrlichen fünf bis 20 Prozent gehört hat und warum diese Leute die ganze Zeit geschwiegen haben und sich nicht betrogen fühlten durch die Mehrheit“, sagte Ex-Festina-Mann Vayer. Eine gute Frage, vor allem an die noch aktiven Veteranen des Profiradsports. Tom Mustroph

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