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Sotschi: Sonne, Berge und Schlaglöcher: Olympische Pappenspiele

Fast 40 Milliarden Dollar hat die Traumwelt gekostet, die Wladimir Putin in die Berge von Sotschi gezaubert hat. Dummerweise ist nicht alles fertig geworden: Über allem schwebt der traurige Charme des Unvollendeten. Eine Reportage.

Wenn die Morgensonne blendet und ihre Strahlen den Nebel der Nacht vertreiben, dann kann der Blick nach oben aus dem Tal von Krasnaja Poljana als Postkartenmotiv herhalten: Die weißen Bergspitzen rahmen das kaukasische Gebirgsdorf ein. Die Dreitausender heißen Tschugusch, Pseaschcha und Zachwoa und kommen, für sich fotografiert, dem Klischee traumhafter Wintermotive sehr nahe. Wählt man den Bildausschnitt aber zu groß, zu weit in die Tiefe gezogen, wird es weniger schön: kahle Hänge, Geröll, Bauschutt, Kabeltrommeln, Dreck, leere Flaschen und Scherben ziehen sich hinunter bis ins umgekrempelte Stadtdorf Krasnaja Poljana mit seinen prachtvoll gemeinten, aber gigantisch kitschigen Neubauten mit wilden Stuckanleihen und Fassadenverzierungen aus russischer Vergangenheit.

„Russische Schweiz“ nennen sie das Gebiet rund um Krasnaja Poljana. 40 Kilometer Luftlinie entfernt von der Schwarzmeerstadt Sotschi finden rund um das Gebirgsdorf die Ski-, Biathlon- und Rodelwettbewerbe der nun beginnenden Olympischen Winterspiele statt. Am heutigen Freitag ist die Eröffnungsfeier im Stadion von Sotschi. Als die russische Stadt mit ihren gut 300 000 Einwohnern 2007 nach dem dritten Bewerbungsanlauf den Zuschlag als Ausrichter bekam, versprach Putin, ein „Schaufenster des neuen Russlands“ zu schaffen und eine Infrastruktur und Sportanlagen, die „in jeder Beziehung Weltspitze“ sein würden. Kurz vor der Eröffnung der Spiele sieht sich Putin mit seinem Projekt am Ziel und sagt: „Es ist schön zu sehen, was sich hier getan hat, weil ich persönlich vor über zehn Jahren die Areale für die Sportstätten ausgesucht habe.“

Mit Olympia will sich Putin ein Denkmal setzen. Und dafür lässt er sich feiern, wo es nur geht. Nach der Eröffnungszeremonie wird das Staatsfernsehen eine Dokumentation mit dem Titel „Die weiche Philosophie“ ausstrahlen. Sie zeigt Russlands Machthaber als Skifahrer im alpinen Gebiet von Krasnaja Poljana. In strahlendem Sonnenschein. Doch was Film und Fotografie können, dem hält der Blick auf die Realität nicht stand: Einen Tag vor Beginn der Spiele präsentiert sich das Dorf für knapp 5000 Einwohner als ein Ort mit merkwürdig grauem Flair. Was Putin als „Weltspitze“ verkaufen will, würde in vielen anderen Ländern als das Gegenteil davon empfunden werden.

Die ganze Siedlung wirkt wie eine Filmkulisse

Durch das lang gezogene Stadtdorf frisst sich die teils sechsspurige Hauptstraße Zaschchitnikow Kawkaza über viele Kilometer ihren Weg. Bäume oder andere Vegetation gibt es rechts und links davon kaum. Sporadisch sind ein paar kleine Tannen in den trockenen Boden gesteckt worden, sie kämpfen mit von Pflöcken gehaltenen Bändern um Standfestigkeit.

Es gibt kaum Fußgängerampeln, und wenn, dann sind sie oft außer Betrieb. Der sichere Weg über die Straße ist für Fußgänger ein Abenteuer. Und die Klotzbauten auf der einen Seite der Straße wirken selbst bei Sonnenschein kalt. Was wie gemauert aussehen sollte, ist aus der Nähe betrachtet oft aufgesetzte Betonplatte. Mächtig sind die Neubauten mit vielen Stockwerken und hohen Decken, und sie sind wohl so geworden, wie sich Putin das für sein Mega-Skidorf vorgestellt hat. Fertig war einen Tag vor den Spielen allerdings wenig, und wenig wird fertig werden. Die Straßen sind voller Schlaglöcher – sie noch zu füllen scheint ein aussichtsloses Unterfangen. Über allem schwebt der traurige Charme des Unvollendeten.

Überall in Krasnaja Poljana sind Bautrupps unterwegs, die den Dreck von der Straße fegen. Doch alles lässt sich nicht wegfegen. Manches ist schlichtweg nicht pünktlich bezugsfertig geworden: Besonders offensichtlich wird dies in Gorky Gorod, einem Bergdorf oberhalb von Krasnaja Poljana, das über eine Gondelbahn mit Ausblick auf einen von Geröll und Müll übersäten Hang zu erreichen ist. Während der Spiele wird Gorky Gorod als Resort von Medien und Zuschauern genutzt, künftig soll es dann den Touristen gehören. In den Straßen reiht sich ein verstuckter Hotelklotz neben den anderen. Die ganze Siedlung wirkt wie eine Filmkulisse, ein Ort aus Pappe, der nach den Spielen wieder abgerissen werden könnte.

Fast 40 Milliarden Dollar hat die Realisierung von Putins Traumwelt verschlungen

Die in den Erdgeschossen der Gebäude geplanten Restaurants, Boutiquen und Cafés werden wohl so schnell nicht alle öffnen können. Dazu steht noch zu viel Bauschutt in den halb fertigen Erdgeschossen, der zentrale Platz des Ortes scheint wie das Zentrum einer Geisterstadt. In den auf ihn zulaufenden Straßen schrauben Bauarbeiter hastig noch ein paar bunte Kunststoff-Straßenschilder samt olympischem Emblem an die Hauswände, in den Straßen versperren Bagger und Kräne die Wege. Die Bürgersteige sind uneben, von riesigen Löchern durchfressen. Tagsüber ist es matschig, morgens bilden sich durch das über Nacht in den Löchern gefrorene Wasser kleine Eisbahnen.

Wenigstens das „Deutsche Haus“ sieht aus wie eine Berghütte

Es ist nicht nur nach westeuropäischen Maßstäben schwer vorstellbar, dass nach den Spielen ein Tourismusboom über die Region hereinbrechen könnte. Auch wird nach Olympia wohl kaum das zu Ende gebaut werden, was jetzt nicht fertig ist. An den Gebäuden und auf den Straßen ragen verschmutzte Kabelenden heraus, Beton, meist blau oder rot bepinselt, ist das bevorzugte Baumaterial in der Region, die Putin auch schon mal gern mit dem Tessin vergleicht. Doch die für die Schweizer Alpen charakteristische Holzbauweise gibt es in Krasnaja Poljana kaum. Das sogenannte „Deutsche Haus“, in dem die deutsche Olympia-Delegation zu Treffen, Empfängen und Pressekonferenzen einlädt, ist eine der wenigen Ausnahmen. Immerhin sieht es wie eine hübsche rustikale Holzberghütte aus.

Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, (DOSB) hat im Deutschen Haus erst am Mittwoch wieder sein Unbehagen über die künstliche Kulisse von Krasnaja Poljana geäußert. Der ehemalige Grünen-Politiker ist „Chef de Mission“ beim deutschen Olympia-Team. Vesper sagte: „Mir blutet mein grünes Herz, wenn ich die Eingriffe in die Natur sehe. Hier musste alles neu gebaut werden: die Sportanlagen, Hotels und Straßen.“ Das habe es so in der Geschichte der Olympischen Spiele noch nicht gegeben. „Und es wurde alles teurer als geplant.“

Fast 40 Milliarden Dollar hat die Realisierung von Putins Traumwelt verschlungen. Eine Rekordsumme in der Geschichte der Olympischen Spiele. Neben dieser gigantischen Summe gab es die Ausbeutung von Wanderarbeitern, von der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ als „Missbrauch“ bezeichnet. Allein die Straße, die Sotschi mit Krasnaja Poljana verbindet, soll 6,4 Milliarden Euro gekostet haben. Sie wurde in die Berge gefräst, genau wie die parallel verlaufende Bahnstrecke, die abends und nachts durchweg beleuchtet ist. Kein Mensch, der Böses will, soll im Dunkeln werkeln können. Doch die Abwehr eines terroristischen Anschlages kostet viel Energie. Erst wenn Olympia vorbei ist, werden die Lichter an der Strecke ausgeknipst und die rund 100 000 Soldaten um Sotschi herum abgezogen werden.

Die Menschen werden nach zweieinhalb Wochen Olympia und den folgenden Paralympics verschwunden sein und viele Sportanlagen nach den Spielen keine Bestimmung mehr haben. Im 40 000 Zuschauer fassenden Olympiastadion, Stätte der Eröffnungs- und Schlussfeier, wird es in vier Jahren ein paar Gruppenspiele der in Russland stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft geben. Vier der Eishallen rund um den Bolschoi-Eispalast in Sotschi sollen zurückgebaut werden oder als Messehallen dienen. Im 12 000 Zuschauer fassenden Bolschoi-Palast finden bei den Spielen die Eishockeybegegnungen statt, das Gebäude, das mit seinem Silberdach von oben aussieht wie ein gefrorener Wassertropfen, könnte nach den Spielen als Konzerthalle genutzt werden. Denn ein höherklassiges Eishockeyteam, das die Arena nutzen könnte, gibt es in der Urlaubsstadt am Schwarzen Meer nicht.

Nach den Spielen soll das Athletendorf wohlhabenden Russen Domizil bieten

Es ist keineswegs so, dass sich dieser Tage alle Gäste in Sotschi unwohl fühlen würden. Zwar ist ein Drittel der Hotels vor den Spielen nicht richtig fertig geworden. Fahrstühle bleiben stecken, Heizungen und Wasserleitungen funktionieren nicht überall, in einem Hotel berichteten Journalisten von streunenden Hunden in den Fluren. Doch im olympischen Dorf von Sotschi geht es vielen Athleten gut. Dort gibt es Balkons mit Meerblick. Nach den Spielen soll das Athletendorf wohlhabenden Russen Domizil bieten. Aber auch an der Meschdonarodnaja Uliza, der Straße, die das Dorf begrenzt, wurde noch hektisch etwas hingewerkelt. Kleine Palmen stecken in der frisch aufgewühlten Erde, von ihren holzverkleideten Balkonen schauen die Sportler nicht nur aufs Meer und die Berge – sondern auch auf die qualmenden Schornsteine einer Raffinerie von Gazprom.

Skirennfahrerin Maria Höfl-Riesch, die bei der Eröffnungsfeier dem deutschen Team als Fahnenträgerin voranschreiten wird, sagt über ihr Quartier: „Es gibt nichts zu beklagen. Es ist kein Luxushotel, aber es ist alles da, was man braucht als Sportler.“ Und DOSB-Präsident Alfons Hörmann, unübersehbar müde ob der Debatten um die olympischen Anlagen, sagt sogar: „In der Stadt Sotschi selbst sind die Dinge perfekt vorbereitet.“ Verständlich, dass der Mann seinen geschäftlichen Jahreshöhepunkt nicht kleinreden möchte, und so verteilt Hörmann noch artig „ein Kompliment für die Gastgeber“.

An vielen Wänden und Bauzäunen prangt der englische Olympia-Slogan von Sotschi: „Hot, cool, yours“. Warm ist es in der Küstenregion. Um die 15 Grad Höchsttemperatur werden erwartet, auch in Krasnaja Poljana hat der Schnee selbst im Ortsteil Gorky Gorod auf 1000 Metern keine Chance mehr. Bei strahlendem Sonnenschein braucht hier niemand Handschuhe. „Cool“ ist das nicht. Und „yours“? Kaum.

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