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© dpa

Spielsystem: Hertha verteidigt stürmisch

Hertha gewinnt durch ein intelligentes Spielkonzept – dafür muss Angreifer Piszczek nun hinten helfen.

Lukasz Piszczek trägt bei Hertha BSC die Nummer 26. Das ist die Nummer, mit der sich vor ein paar Jahren Sebastian Deisler verewigt hat, Anfang des neuen Jahrtausends, als die Berliner schon einmal die Bundesliga im Sturm erobern wollten. Rein symbolisch gesehen ist das eine schwere Belastung, denn wahrscheinlich hat nie ein besserer Fußballspieler für Hertha BSC gespielt als Sebastian Deisler. Doch als Lukasz Piszczek da am Samstagnachmittag, kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit, auf dem rechten Kreidestrich entlang lief und den Ball in die Mitte schlug, mit viel Effet und einer Flugkurve, die es Verteidigern nahezu unmöglich macht, mit zerstörerischer Wucht einzugreifen – in eben dieser Szene wirkte Piszczek so, als habe er vor dem Spiel ein paar der von seinem Trainer Lucien Favre so geschätzten DVDs studiert. DVDs, auf denen die Flankenläufe von Sebastian Deisler zu sehen sind.

Eine perfekte Flanke segelt nicht hoch und weich in den Strafraum. Der Ball braucht Spin, damit er sich vom Torwart wegdreht in Richtung Elfmeterpunkt; er braucht Tempo, das ein guter Stürmer umsetzen kann in einen erfolgreichen Kopfstoß; er braucht eine flache Flugkurve, damit Torhüter und Verteidiger möglichst wenig Zeit haben, sich auf ihn einzustellen. Der Fuß trifft den Ball mit einer ganz bestimmten Stelle zwischen großem Zeh und Knöchel, und das aus vollem Lauf. Genau so hat es Deisler in seiner besten Zeit gemacht, und Piszczeks Flanke auf den Brasilianer Raffael zum alles entscheidenden 2:0 gegen den VfL Bochum war ein ziemlich exaktes Plagiat.

Er hat sich gefreut, ein bisschen, nicht zu heftig, soll bloß keiner denken, dass er so richtig glücklich ist mit seiner Gegenwart bei Hertha BSC. Der gelernte Stürmer Lukasz Piszczek dient den Berlinern zurzeit als rechter Außenverteidiger. Das ist eine der wichtigsten Positionen, die im modernen Fußball zu vergeben sind, aber Piszczek würde doch lieber „ein bisschen weiter vorne spielen“. Er ist jetzt 23 Jahre alt und ist früher nie als Verteidiger aufgelaufen, „aber der Trainer entscheidet, und wenn er sagt, ich soll hinten spielen“, dann spielt er eben hinten.

Piszczek hat seine fußballerische Sozialisation in Polen erfahren. Mit Zaglebie Lubin ist er vor zwei Jahren Meister geworden, natürlich als Stürmer, und als so einen hatte ihn auch Hertha vor zwei Jahren eingekauft. Das Tempo in der Bundesliga aber schien ein wenig zu hoch für ihn zu sein. Piszczek fand nie ins Spiel, er wirkte überfordert, wie zuvor schon seine Landsleute Piotr Reiss, Bartosz Karwan oder Artur Wichniarek. Wahrscheinlich hätte ihn so ziemlich jeder Trainer schon abgeschoben. Aber Lucien Favre, der Mann, der bei Hertha scheinbar Wein aus Wasser keltert, ihm gefiel Piszczeks Stil. Auch als der Pole ein knappes halbes Jahr verletzungsbedingt ausfiel, war ein Verkauf oder Leihgeschäft nie ein Thema. Denn Lucien Favre hatte etwas gesehen, was noch keinem aufgefallen war: Piszczeks Spielintelligenz, sein Gespür für Zeit und Raum, das die man ebenso wenig erlernen kann wie das Schlagen perfekter Flanken.

So überraschend seine Versetzung in die Defensive auf den ersten Blick wirkt, so logisch ist sie auf den zweiten. Im modernen Hochgeschwindigkeitsfußball sind Außenverteidiger mehr als Zerstörer, die sich nur beim Torjubel über die Mittellinie wagen. Es sind spielprägende Persönlichkeiten wie Sergio Ramos, Philipp Lahm oder José Bosingwa, die für die neue Schönheit auf der einstigen Zerstörerposition stehen. Auch Lucien Favre ist ein Bewunderer dieses modernen Angriffstils, mit seinem limitierten Personal kann er ihn nur allzu selten umsetzen. Und nirgendwo ist Hertha so bescheiden besetzt wie auf den Außenbahnen. Marc Stein, Sofian Chahed, Leandro Cufré, Rodnei – alles brave Verteidiger, die jenseits der Mittellinie allzu schnell an ihre Grenzen stoßen. Da nun einem Verteidiger das Stürmen eher schwierig beizubringen ist, entschied sich Favre für den umgekehrten Weg – und brachte dem Stürmer Piszczek das Verteidigen bei.

Das funktioniert, auch unter erschwerten Wettbewerbsbedingungen. Vor drei Wochen wechselte Favre beim wegweisenden Spiel gegen Werder Bremen den gerade der Rekonvaleszenz entwachsenen Piszczek eine halbe Stunde vor Schluss beim Stand von 0:1 für Stein ein. Damals hielt noch jeder den Polen für einen Stürmer. Der aber hielt die rechte Seite dicht und machte Druck nach vorn, Hertha gewann noch 2:1, und seitdem ist Piszczek aus der Viererkette nicht mehr wegzudenken. Das mag ihm selbst nicht so recht gefallen, aber mit jedem Spiel entkräftet er alle Argumente, die für eine Neubesetzung auf der Position des rechten Außenverteidigers sprechen. Gegen Bochum bereitete Lukasz Piszczek nicht nur mit schneidigem Flankenlauf das zweite Tor vor, er hatte zuvor schon das 1:0 mit gedankenschnellem Steilpass auf Andrej Woronin inszeniert. Mit dem Überblick und der Spielintelligenz eines Stürmers, der selbst gern so angespielt werden würde. Aber auch dies war kein gutes Argument für eine mannschaftsinterne Versetzung.

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