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Sprint-Wissenschaft: Rennt so ein Mensch?

Die Sprinter werden immer schneller – aber wo liegt die absolute Grenze? Bei 9,51 Sekunden? Bei 9,29? Darüber streitet die Wissenschaft. Nur eins ist sicher: Die Topläufer werden immer größer.

Eigentlich dürfte es den Weltrekord von Usain Bolt gar nicht geben. Als der Jamaikaner im vergangenen Jahr ganz nonchalant mit offenen Schnürsenkeln und ausgebreiteten Armen in Peking die Ziellinie überquerte, blieb die Uhr bei 9,69 Sekunden stehen. Dabei hatten Forscher des angesehenen Biomedizinischen und Epidemiologischen Instituts für Sport in Paris kurz zuvor errechnet, was menschenmöglich ist. „Die Menschheit hat 99 Prozent der Leistungsfähigkeit erreicht“, schlussfolgerte damals der Leiter des Instituts, Jean-Francois Toussaint. In der Hälfte aller Sportarten werde 2027 das Ende erreicht sein, Weltrekorde würden immer weiter abnehmen, manche Bestmarken nie überboten. Beim 100-Meter-Sprint sah er die Grenze bei 9,726 Sekunden.

Diese Grenze hat Bolt durchbrochen – und das mit Leichtigkeit. Norwegische Physiker haben sich die Mühe gemacht, die Videoaufnahmen seines Rekordrennens genau zu analysieren und errechnet, dass Bolt bis zu 0,14 Sekunden schneller hätte sein können – das ergibt eine mögliche Zeit von 9,55 Sekunden. Plötzlich ist wieder mehr menschenmöglich. Aber wie viel mehr?

Dass es immer schwerer wird, in der Leichtathletik noch neue Rekorde aufzustellen, scheint offensichtlich. Aber wann und ob jemals ein Punkt erreicht wird, der keine Steigerung mehr zulässt, darauf gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Es gebe viele Methoden, Vorhersagen zu machen, sagt Joachim Mester vom Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Sporthochschule Köln. „Meistens werden aber die Weltrekorde der letzten 30 bis 50 Jahre genommen, eine Kurve durch die einzelnen Punkte gelegt und dann in die Zukunft verlängert.“ Die Kurve zeige dann natürlich eine leichte Steigung. „Aber niemand kann sagen, wann diese leichte Steigung verschwindet.“

Der Statistik-Professor John Einmahl ist anders an die Frage herangegangen, mithilfe der Extremwerttheorie. Einmahl berücksichtigt dabei nicht nur die Rekordwerte, sondern auch die Zeiten zahlreicher anderer Athleten. So errechnete er, dass über hundert Meter eine Zeit von 9,29 Sekunden für Männer möglich sei. Andere Spitzenleistungen: 106,50 Meter im Speerwurf der Männer und 72,50 bei den Frauen. Zurzeit liegen die Rekorde bei 98,48 und 71,70 Metern. Beim Marathon der Frauen sollen sogar 2:06 Stunden möglich sein, fast neun Minuten unter dem derzeitigen Weltrekord. Kürzlich revidierte Einmahl seine Prognose für den 100-Meter-Lauf allerdings: 9,51 Sekunden seien seiner Meinung nach die Grenze. Damit wäre Usain Bolt in Peking über die ersten 80 Meter erstaunlich nah an dieser absoluten Bestzeit gelaufen.

„Ich sehe alle diese Prognosen sehr skeptisch“, sagt Mester. Aussagen über die Zukunft seien schon deswegen schwer, weil die Verbesserung der Sprintzeiten in den letzten Jahrzehnten viele unterschiedliche Gründe gehabt habe. „Armin Hary ist 1960 die hundert Meter in zehn Sekunden gelaufen, aber das war auf Asche. Und Spikes hatte er auch nicht“, sagt Mester. Auch am Training habe sich viel verändert. „Und das Doping hat sicher eine größere Rolle gespielt, als man nachweisen kann.“ Was sich in der Zukunft noch ändern wird, lässt sich kaum vorhersagen. Eines wird sich aber sicher weiterentwickeln: Die Körper der Athleten.

„Große Tiere bewegen sich grundsätzlich schneller fort als kleine“, sagt Adrian Bejan, mechanischer Ingenieur an der Duke University im amerikanischen Durham. „Das wird nur häufig übersehen, weil sie dabei gemächlich wirken. Wale bewegen sich nicht hektisch – schnell sind sie trotzdem.“ Auch für Menschen gelte der Zusammenhang. Tatsächlich liest sich eine chronologische Auflistung der Weltrekordhalter über 100 Meter, als habe man die Athleten nach ihrer Körpergröße geordnet: Jesse Owens, der 1936 einen Weltrekord aufstellte, der 20 Jahre lang Bestand hatte, war 1,78 Meter groß. Carl Lewis, der Ende der achtziger Jahre mehrfach Weltrekord lief, war 1,88 Meter groß, Asafa Powell, bis zu den Olympischen Spielen in Peking Weltrekordhalter, misst 1,91 Meter. Usain Bolt ist noch ein paar Zentimeter größer. In einer Studie, die im Juli im Fachblatt „Journal of Experimental Biology“ veröffentlicht wurde, hat Bejan den Zusammenhang zwischen Körpergröße und Weltrekord untersucht. Das Ergebnis: Die Durchschnittsgröße des Menschen hat von 1900 bis 2002 um etwa fünf Zentimeter zugenommen. Die Durchschnittsgröße von Topsprintern in derselben Zeit um 16,2 Zentimeter.

„Das ist pure Physik“, sagt der Professor. Man müsse sich den Sprinter als einen Stab vorstellen, der nach vorne fällt, aber durch das andere Bein wieder aufgerichtet werde, ehe er wieder nach vorne falle. „Das ist Rennen: Ein ständiges Nach-vorne-Fallen.“ Aber wenn etwas aus einer größeren Höhe falle, erreiche es eine größere Geschwindigkeit und deswegen seien größere Menschen schneller. Bejans Schlussfolgerung für die Jagd nach Weltrekorden ist eindeutig: „Es gibt keine Grenze“, sagt er. „Menschen werden immer größer und im Sprint werden immer häufiger die allergrößten ausgewählt.“ Kleine Sportler werden es folglich immer schwerer haben, glaubt Bejan und befürwortet deswegen sogar eine Einführung von Größenklassen beim Sprint. „Weil größere Athleten stärker drücken und zuschlagen können, wurden etwa beim Ringen und Boxen Gewichtsklassen eingeführt. Größere Athleten können aber auch schneller laufen.“ Bejan hat auch zurückgerechnet, was das für die ersten Olympioniken bedeutete. Das Ergebnis: Im alten Griechenland, wo die Menschen noch kleiner waren, reichten wohl 14 Sekunden, um über 100 Meter zu siegen.

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