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Stabhochsprung: Die Favoritin Jelena Isinbajewa scheitert an sich selbst

Jelena Isinbajewa, die Stabhochspringerin der Rekorde ist gescheitert – und erscheint nun menschlicher

Der Speer stieg steil in den Abendhimmel, und dann durchzog ein ohrenbetäubender Aufschrei das Berliner Olympiastadion. Dieser Speer würde nie im Leben bei 67,30 Metern landen, auf gar keinen Fall würde die Olympiasiegerin Barbora Spotakova aus Tschechien eine neue Bestweite erzielen. Und damit durchflutete 30 000 Zuschauer ein betörendes Glücksgefühl. Denn in dieser Sekunde war Steffi Nerius Weltmeisterin im Speerwerfen, Weltmeisterin mit persönlicher Saisonbestleistung von 67,30 Metern. Nur sie war noch im Wettbewerb, niemand konnte jetzt noch den größten, den emotional stärksten Triumph ihrer Karriere verhindern.

Steffi Nerius Weltmeisterin 2009, das klingt wie eine gut getimte, aber übertriebene Inszenierung. Denn die 37-Jährige hatte in Berlin ihren letzten großen Auftritt. Die WM, das war die Bühne, von der sie sich noch mal mit Würde und Freude verabschieden wollte. Steffi Nerius beendet nach dieser Saison ihre Karriere, sie ist 37 Jahre alt, sie hatte höchstens in ihren Träumen an Gold gedacht. Christina Obergföll, die Olympiadritte von 2008, wurde mit 64,34 Meter Fünfte. Linda Stahl von Bayer Leverkusen belegte mit 63,23 Metern Rang sechs.

Nach Spotakovas letztem Versuch schossen Nerius Tränen in die Augen. Mit einer Hand wischte sie sich über die Augen, mit der anderen hielt sie den Speer, sie musste ja noch werfen. Rauschender Applaus begleitete den Speer, er landete weit unter 65 Meter, Nerius machte den Versuch ungültig. Die Party begann. Die 37-Jährige hüpfte über die Bahn, die Deutschland-Flagge in den Händen. Irgendwann riss sie vor Freude WM-Maskottchen Berlino um. „Ich habe mir einen perfekten Abschied gewünscht“, rief sie ins Stadionmikrofon. „Ich habe ihn erhalten.“

Noch eine Stunde nach dem Triumph hatte sich Nerius noch nicht gesammelt. „Ich bin ein bisschen im Schockzustand“, sagte sie und musste immer wieder beteuern, dass sie jetzt wirklich trotzdem aufhören wolle. Ja, sie will. „Denn das ist der schönste und größte Moment in meinem Leben.“

Ihren perfekten Abschied hatte Nerius mit einem mächtigen Armzug eingeleitet. Ihr erster Versuch, eine Machtdemonstration. Der Speer flog, vom Raunen und dann vom Beifall der Zuschauer begleitet, 67,30 Meter weit. In der Abwurfzone brüllte Steffi Nerius dreimal mal lang gezogen „Jaa.“ Noch nie hatte sie in dieser Saison so weit geworfen. Sie hüpfte über die Anlage. In Leverkusen, zwei Wochen vor der WM, hatte sie 66,82 Meter geworfen. Ein Ausreißer nach oben in einer Serie von Würfen zwischen 60 und 63 Meter.

Aber sie hatte weniger Druck als Christina Obergföll. Die hatte lange Zeit mit 68,59 und 68,40 Meter die weitesten Würfe in dieser Saison, aber sie trat in Berlin an als eine Frau, die in den vergangenen Wochen fast verzweifelt ihre Form suchte. Ihr erster Versuch war ungültig, der zweite landete bei 60,37 Meter, der dritte flog dann immerhin 64,34 Meter weit.

Aber zu diesem Zeitpunkt lag Nerius immer noch in Führung. Und wo war die Olympiasiegerin Spotakova? Mit 66,42 Metern auf Rang zwei. Wo war die Russin Maria Abakumowa, die in der Qualifikation den Speer 68,92 Meter weit geschleudert hatte? Klar hinter Nerius. Sollte hier tatsächlich eine Riesenüberraschung möglich sein?

Noch wollte niemand dran glauben. Dass Nerius Obergföll in Schach halten könnte, das war vorstellbar. Die dreimalige WM-Dritte hatte die nationale Konkurrentin ja schon bei den Deutschen Meisterschaften besiegt. Nerius hatte auch erklärt, dass sie so gute Kraftwerte habe wie seit Jahren nicht mehr. Aber was heißt das schon? Sie ist 37, was konnte man von ihr erwarten?

Der Endkampf. Jetzt müsste Christina Obergföll zulegen. Aber sie kann nicht mehr, produziert zwei ungültige Versuche. Nerius führt weiter. Nur noch Spotakova oder Abakumowa können ihr noch gefährlich werden. Die Spannung im Stadion steigt. Die Russin wirft, ihr letzter, verzweifelter Versuch. Als ihr Speer fliegt, zieht sich ein Raunen durch das Stadion. Er fliegt weit, würde er über 67,30 Meter gehen? Nein, bei 66,06 Metern bleibt die Spitze im Rasen stecken. Die Zuschauer atmen auf. Aber noch ist es nicht zu Ende, die Olympiasiegerin steht bereit für ihren letzten Versuch. Spotakova läuft an, sie wirft, und der Speer fliegt. Er fliegt steil in den Abendhimmel.

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