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Stadt und Klub: Borussia Dortmund: Stern des Westens

Nirgendwo in Deutschland gehen so viele Menschen zum Fußball wie in Dortmund – fast 75.000 sind bei Heimspielen im Stadion. Eine Trotzreaktion auf den wirtschaftlichen Abstieg der Region? Wie eine Stadt und ihr Verein miteinander verschmolzen sind.

Thomas Krampe kann es nicht mehr hören. Wenn Leute ihm auf die Schulter klopfen und Sätze sagen wie: „Super, Euer Stadion. Sagenhaft, diese Fans. Aber ihr habt ja auch sonst nichts, bei euch in Dortmund.“ Krampe ist der Typ, der dann kurz den Kopf schüttelt und verdrossen abwinkt. Und wenn ein Tresen in der Nähe ist, vielleicht noch ein Pils bestellt.

Thomas Krampe, 65 Jahre alt, war früher „Hoeschianer“. Einer, der bei Hoesch auf dem Hüttenwerk Phoenix-West am glühenden Hochofen gestanden hat, als sie in Dortmund noch Stahl gekocht und gewalzt haben und die Hausfrauen alle drei Tage die Fenster putzten, weil der Fallout der Schwerindustrien im Takt der Stahl-Abstiche auf die Stadt rieselte. „Später hammse natürlich Filter eingebaut“, sagt er. Krampe rannte damals schon an Samstagen ins alte Stadion Rote Erde, zu Borussia Dortmund, oder später ins Westfalenstadion. „Aber nicht, weil es nichts anderes gab“, brummt Krampe. Doch Liverpool hat immerhin noch die Beatles herausgebracht und nicht nur den FC Liverpool – und Dortmund?

Der Ballspielverein Borussia von 1909, der gerade ausgiebig sein 100-jähriges Bestehen feiert und in der Liga mal wieder oben angreift, ist schon lange der Stolz der Stadt. Und irgendwohin will eine große alte Stadt schließlich mit ihrem Stolz. Wenn die noble Londoner „Times“ das Dortmunder Stadion zur „besten Fußballarena der Welt“ ernennt, wie in diesem Sommer geschehen, vor Liverpools Anfield Road und Madrids Bernabeu Stadion, dann taugt das in Dortmund für eine Schlagzeile auf Seite eins der Zeitungen. Im Schauspielhaus bricht gerade ein „Borussical“ über die Geschichte des BVB alle Besucherrekorde. „Leuchte auf, mein Stern Borussia“ erzählt die 100 Jahre BVB als „Geschichte von mindestens vier Beinahe-Konkursen“, wie der Revue-Macher und Kabarettist Bruno Knust es grinsend zusammenfasst. Knust war übrigens eine Zeitlang auch Stadionsprecher.

Dortmunds Einwohnerzahl ist auf unter 600 000 gesunken, die Arbeitslosenzahl will sich nur langsam unter die 13 Prozent drücken lassen. Während Borussia alle Konkurse, auch den schlimmsten vor fünf Jahren, im Laufe der Jahrzehnte abgewehrt hat, sind die alten Eckpfeiler der Stadt schon vor vielen Jahren verschwunden. Bruno Knusts „Borussical“ spielt die Atmosphäre der vergangenen Stahl-, Kohle- und Bier-Ära nach. Die halbe Aufführung dreht sich um das Kiosk-Büdchen von Tante Trude, und einmal singt ein Kumpel „Dunkel war’s im Schacht“ zur Melodie von „Strangers In The Night“. Zechen gibt es seit den 70er Jahren nicht mehr. Und eines der Stahlwerke, das spektakulär Teil für Teil demontiert und nach China verkauft wurde, ist auf beinahe symbolhafte Weise verschwunden: Das riesige Areal des alten Walzwerks wird gerade zu einem See renaturiert. Die mittelalterliche Burg daneben, in der früher die Verwaltung der „Hoesch Hüttenunion“ residierte,ist schon herausgeputzt. Noch pflügen die Bagger die industriellen Reste unter, die Fläche sieht wie eine gigantische Narbe aus. Die Modelle zeigen schon: Schöner ist ein Industriestandort selten untergegangen. Alten Stahlwerkern wie Krampe steigen trotzdem Tränchen in die Augen, wenn sie sehen, wie das Werk im Nichts verschwunden ist.

Das Stadion heißt heute „Signal-Iduna-Park“, nach dem letzten großen Konzern, dessen Hauptsitz noch in der Stadt geblieben ist und der für die Namensrechte ein paar Millionen jährlich zum Klub-Budget beisteuert. Die Image-Strategen der Stadt verweisen unverdrossen darauf, dass Dortmund der „zweitgrößte Standort der deutschen Versicherungsbranche“ sei. Die Kinder der Malocher arbeiten an sauberen Arbeitsplätzen, in der Nähe des Stadions liegt das Gelände der Technischen Universität und des „Technologie-Parks“, wo Software und Chips produziert werden, manchmal in staubfreien Räumen. Wer hier eine kleine Firma aufgemacht hat oder arbeitet, kann sich die Dauerkarten für das Stadion leisten.

500 oder mehr Euro muss man für einen Saison-Dauersitzplatz im ehemaligen Westfalenstadion zahlen. Der Zuschauer-Durchschnitt in Dortmund ist der zweithöchste in Europa, mit fast 75 000 nur um ein paar hundert Besucher übertroffen von Manchester United. Aber die, sagen sie in Dortmund trotzig, spielen jedes Jahr in der ChampionsLeague. Die Südtribüne mit rund 25 000 Stehplätzen ist die emotionale Herzkammer des Stadions, kein Klub der Welt wird so mit einer Tribüne der Hardcore-Fans identifiziert. „Die Gelbe Wand“, ein aus Menschen in Vereinsfarben bestehendes Spieltags-Monument, ist vermutlich der zentrale Ort dieser Stadt.

Oberbürgermeister Ulrich Sierau, der sich in ein paar Wochen einer Neuwahl stellen muss, weil sein Vorgänger die finanziell miserable Situation der Stadt erst exakt einen Tag nach den Kommunalwahlen im Sommer bekannt gegeben hatte und die Opposition von Wahlbetrug spricht, hat sich in seiner kurzen Amtszeit zumindest ein Denkmal gesetzt. Die Südtribüne, Europas größte Stehplatztribüne, wird auf seine Initiative offiziell zu einem „Baudenkmal“ ernannt. Bauliche Veränderungen werden damit schwerer, aber für künftige Renovierungen kann der Klub Zuschüsse bekommen. Die Statik muss man schließlich im Auge behalten, wenn 25 000 Menschen wie in Ekstase auf und ab hüpfen. Denn „wer nicht hüpft“, geht ein Sprechgesang, „der ist ein Schalker“. Und das wäre das Schlimmste, was einem Borussen-Fan im Diesseits passieren könnte.

Neulich, als Kevin Großkreutz, ein 21-jähriger aus dem alten Arbeiterstadtteil Eving und BVB-Fan seit seiner Kindheit, sein erstes Tor für Jürgen Klopps Profitruppe schoss, explodierte das Stadion förmlich, wie in den alten Zeiten, als Dortmund noch Meisterschaften gewann. „Als die Fans dann für Kevin sangen: Dortmunder Jungs, wir sind alle Dortmunder Jungs! Da zog sich die Gänsehaut bei mir den ganzen Körper lang“, erzählt Klopp. Emotionstierchen wie Klopp und einige seiner jungen Spieler berauschen sich an der Atmosphäre des Stadions. Engländer und Schotten, die den schleichenden Verlust ihrer eigenen Fußballkultur mitansehen, weil Klubs von Mäzenen oder Unternehmen gekauft und durchkommerzialisiert werden, haben für den Sound von Dortmund schon vor 30 Jahren einen Begriff geprägt: „Westfalenstadion Roar“.

In der Stadt ist davon an Nicht-Spieltagen kaum etwas zu merken. Abgesehen von den knallgelben Flaggen, Wimpeln, Postern, die allgegenwärtig sind, und den neumodischen, in den Asphalt der Innenstadt eingelassenen Sternen, die als „Walk Of Fame“ an große Spieler erinnern, von Hans Tilkowski über Max Michallek bis zum „Bomber mit der linken Klebe“, Lothar Emmerich. Dortmunds Stadtzentrum hat zwar nur wenige historische Gebäude, vor allem die Kirchen Reinoldi, Marien, Petri und Propstei, mit zugehörigem Kloster, aber das alte Layout, den Stadtplan, hat die Stadt fast vollständig aus dem Mittelalter übernommen.

Innerhalb der alten Stadtmauern, die heute – bis auf einen wiederaufgebauten Turm – völlig einer sechsspurigen Ringstraße gewichen sind, gibt es eine riesige, fast komplett autofreie Fußgängerzone. Die Stadt wirkt aufgeräumt, adrett, fast so, als hätte man nichts anderes im Sinn, als ständig zu demonstrieren, wie man den Schmutz der Industriezeiten weggestrahlt hat. Auf dem Weihnachtsmarkt, der sich über mehrere der großen Plätze der Stadt erstreckt, hört man Holländisch, Englisch, Französisch, Italienisch. Die Dortmunder registrieren stolz, dass jetzt auch endlich jemand ihre alte Stadt und den vermeintlich höchsten Weihnachtsbaum der Welt auf dem Hansaplatz sehen will. Und nicht immer nur alle ihre Stadt auf den BVB reduzieren.

Dortmund hat mit dem fast schon schlagartigen Verschwinden seiner Industrien ein bisschen verzweifelt seine Geschichte wiederentdeckt, die unter dem Schwermetall der industriellen Zeiten beinahe begraben schien. BVB-Archivar Gerd Kolbe, vor langer Zeit auch einmal Pressesprecher der Stadt, erinnert gern daran, dass Dortmund schon im Mittelalter zu den größten deutschen Städten gehörte. Am Hellweg gelegen, war die „Freie Reichs- und Hansestadt Dortmund“ so wohlhabend, dass es den adligen Nachbarn ab und an einfiel, die Stadt mit ihren trutzigen Stadtmauern plündern zu wollen. Den Kindern wird der alte Wahlspruch der Stadt bis heute in der Grundschule beigebracht: „So fast as Düorpm“ – auf westfälisch Platt heißt das so viel wie: So uneinnehmbar wie Dortmund. Was für ein Slogan für einen Fußballverein. So trotzig, wie es die Schulkinder in Dortmund bis heute über den Urcharakter ihrer Stadt lernen.

„Eigentlich war die Gründung des BVB auch eine Trotzreaktion“, erzählt BVB-Archivar Kolbe. Damals, in der stolzen Gründerphase der Industriestädte, hatten sich in der Nähe des Stahlwerks Westfalenhütte, am Borsigplatz in der proletarischen Nordstadt, ein paar Jungs zum Fußballspielen auf der „Weißen Wiese“ zusammengefunden. Kaiserreich und Kirche waren noch gut bei Kräften. Fußballspielen galt als „rohes und wildes Treiben“ – so zitiert Kolbe den damaligen Kaplan der zuständigen Gemeinde. Kaplan Hubert Dewald nannte die Spiele seiner männlichen Schäfchen auf der Weißen Wiese „Fußlümmelei“.

Im „Borussical“ wird Kaplan Dewalds Kreuzzug gegen den Fußball zu einem regelrechten Exorzismus. Zur Melodie von „I Can’t Get No Satisfaction“ faucht der Geistliche: „Ihr müsst aufhör’n, mit dem Fußball!“ Und die Verwandtschaft zwischen sexueller Rebellion der Rolling Stones und fußballerischer Revolte der Jung-Borussen ist unübersehbar. Noch heute, bei jedem Heimspiel im Stadion.

Der Kaplan soll Torpfosten nachts demontiert haben, schließlich setzte er den Gottesdienst für 14 Uhr an, zur Anstoßzeit der Fußballer auf der Weißen Wiese. Das war offenbar zu viel der Provokation: Am 19. Dezember, so erzählt die Legende, trafen sich die Jungfußballer in der Gaststätte „Zum Wildschütz“ und gründeten – aus Protest – den BVB 09. Im „Borussical“ geht die Gründungssitzung in ein Gelage über. Knapp zwei Jahrzehnte später war der Ballspielverein zum ersten Mal pleite. Beim Versuch, sich mit geliehenem Geld und aus der Nachbarschaft eingekauften Spielern Anschluss an die führenden Schalker zu verschaffen, hatte sich der BVB übernommen. Klubpräsident Heinz Schwaben, von Beruf Brauereidirektor, zahlte die Schulden am Ende aus eigener Tasche: 12 000 Reichsmark.

Von solchen Anekdoten kann die Stadt heute nur träumen. Der Umbau von einer wuchtigen, aber schmuddeligen Ruhrpottstadt zur halb modernen, halb historisierenden „Westfalen-Metropole“, wie die Stadtmanager es gerne nennen, hat viel Geld und Energien gekostet. Der Phoenixsee, Dortmunds künftiges Gegenstück zu Hamburgs Außenalster, nur weniger idyllisch, eine neue Philharmonie, der Umbau des gigantischen Brauerei-Klotzes „Union“ zu einem Kunstmuseum, gerade noch rechtzeitig zum Kulturhauptstadt-Europas-Event 2010, ein marodes städtisches Klinikum, ein Flughafen, der seit Jahren hohe Verluste macht. Die Stadt ist zwar etwa so einwohnerstark wie Stuttgart, Frankfurt oder Düsseldorf – aber ihre Einnahmequellen sind zum großen Teil versiegt und die Arbeitslosengelder kosten sie obendrein viel Geld.

Immerhin hat die Stadt mit den heftigen Investitionen die Massenabwanderung ihrer Einwohner verhindert. Prognosen sagen, dass Dortmund – völlig gegen den Trend des Ruhrgebiets – kaum noch Einwohner verlieren wird. Wirtschaftsfachleute sprechen gar von einer Boomtown, auch wenn man das in der Nordstadt, wo auch heute der Großteil der Arbeitsmigranten lebt, nicht recht merken kann.

Als Fußball-Klub hat Dortmund den Kollaps von 2004 überwunden. Jürgen Klopps Mannschaft mit lauter sehr jungen Spielern stürmt gerade die obersten Tabellenregionen. Der unprätentiöse, emotionale, ironische Klopp repräsentiert dabei ganz nebenbei die ganze Stadt so, wie sich die Dortmunder ihre eigene Außenwirkung am liebsten ausmalen.

Bruno Knusts „Borussical“ endet im Jahr 2019. Es wird gefeiert, alles ist in schwarz-gelb angestrichen, die nächste Pleite nicht ausgeschlossen. Die Kulisse von Dortmund haben sie irgendwie ein bisschen größer gemalt, als sie ist. Und Borussia leuchtet 2019 immer noch als Stern über der Stadt. Genauso wird es wahrscheinlich kommen.

Der Autor ist Dokumentarfilmer und lebt in seiner Heimatstadt Dortmund. Für seine Artikel über die Finanzmisere des BVB erhielt er 2005 den Henri-Nannen-Preis für investigativen Journalismus.

Freddie Röckenhaus

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