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Sport: Standard oder Latein?

Hundertundeine Ecke und kein Tor: Das deutsche Team ist bei Standards erschreckend harmlos

Basel - In ihren besten Momenten der vergangenen beiden Jahre hat sich die deutsche Nationalmannschaft durch besondere Systemsicherheit ausgezeichnet. In solchen Momenten funktionierte ihr Spiel auch unabhängig von den handelnden Personen. Wie das aussieht, war am Montag im Spiel gegen Österreich zu sehen. In der Schlussphase übernahm Thomas Hitzlsperger jenen Part, den während der Europameisterschaft auch schon Lukas Podolski, Torsten Frings und Bastian Schweinsteiger ausgefüllt hatten. Hitzlspergers Interpretation dieser Rolle sah exakt genau so aus, wie sie bei seinen drei Mitspielern ausgesehen hatte. Die Automatismen funktionieren also blendend. Egal, wer bei der deutschen Mannschaft Ecken oder Freistöße in den gegnerischen Strafraum schlägt – es passiert: nichts.

Der Skandal daran ist, dass die Deutschen sich einer unglaublichen Verschwendung wertvoller Ressourcen schuldig machen. Mit Michael Ballack, Per Mertesacker, Christoph Metzelder, Mario Gomez und Miroslav Klose besitzt die Mannschaft eine ganze Reihe geprüfter Kopfballspieler, doch sie kommen gar nicht erst zu der Gelegenheit, ihre Stärken gewinnbringend einzusetzen. „Wir müssen entschlossener, kompromissloser in die Bälle reingehen“, sagt Hans-Dieter Flick, der Assistent von Bundestrainer Joachim Löw. „Allerdings müssen die Bälle auch so gespielt werden, dass sie erreichbar sind.“

Standards, Ecken und vor allem Freistöße von der Seite sind im modernen Fußball ein anerkanntes Mittel, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Doch die Deutschen scheinen das nicht nötig zu haben. Den letzten Treffer nach einer Freistoßflanke erzielte Mario Gomez vor einem Jahr – gegen San Marino. Seitdem trat die Mannschaft zu 101 Ecken an, aus keiner einzigen resultierte ein Tor. „Wir haben zuletzt zu wenig aus Standardsituationen gemacht“, sagt selbst Joachim Löw.

Seitdem die Deutschen vor mehr als vier Wochen ihre Vorbereitung auf die EM begonnen haben, wurden die Trainer dreimal gefragt, wie es denn mit den Standardsituationen aussehe. Die Antwort war immer die gleiche, sinngemäß lautete sie: Wichtiges Thema. Wir sind noch nicht dazu gekommen, bleiben aber dran. Auf Mallorca kündigte Löw an, das Training der Standards werde in der letzten Woche vor dem Turnier ein Schwerpunkt sein. Eine Woche nach der letzten Woche vor dem Turnier sagte er dann: „Vollumfänglich haben wir das noch nicht nachgeholt. Andere Dinge waren von noch größerer Wichtigkeit.“ So ähnlich war das auch vor zwei Jahren während der WM. Immer wieder wurde auf die besondere Bedeutung der Standards hingewiesen und das Studium großartiger Varianten angekündigt. Doch als das Turnier vorbei war, hieß es: Wir hatten leider keine Zeit.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Löw Standardsituationen für unter seiner Würde hält. Er will von seiner Mannschaft offensives Kombinationsspiel sehen, Tore aus Ecken und Freistößen gelten ihm wohl als Tore zweiter Klasse. Damit hat die Nationalelf vornehmlich in ihrer Rumpelzeit unter Rudi Völler ihre Spiele gewonnen. Aber vielleicht ist es kein Zufall, dass ein direkt verwandelter Freistoß von Michael Ballack Österreich besiegte, dass sich das Team jetzt, da es vergeblich nach seinem Stil fahndet, wieder alter Methoden erinnert. Auch gegen Portugal könnte sich bei Standardsituationen ein bisschen mehr Liebe zum Detail bezahlt machen. Ihr Torwart Ricardo besitzt gerade bei hohen Bällen auffallende Schwächen.

Standardsituationen waren immer auch Teil des Mythos vom unbesiegbaren Deutschland. Früher musste die Nationalelf nicht gut spielen, im Zweifelsfall gewann sie durch ein Kopfballtor nach einer Ecke oder einem Freistoß. So wie 1980 im EM-Finale gegen Belgien: In letzter Minute köpfte Horst Hrubesch nach einem Eckball von Karl-Heinz Rummenigge das 2:1. Die Deutschen wussten damals, worauf sie sich verlassen konnten. Als Rummenigge sich an der Eckfahne den Ball zurechtlegte, sagte er zu den Fotografen: „Passt mal gut auf! Jetzt fällt gleich das Tor.“ Stefan Hermanns

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