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STARTSCHUSS IN OSAKA Heute beginnen in Japan die Leichtathletik-Weltmeisterschaften: Testläufer für die Mittelklasse

Jan Fitschen verkörpert ein deutsches Dilemma: Was ist ein hinterer Platz im Dopingzeitalter wert?

Der Durchschnittswert ist neun. Nur ist jetzt nicht klar, ob das eine ermutigende Zahl ist oder nicht. Jan Fitschen wird bei der Leichtathletik-WM in Osaka Neunter über 5000 Meter. Das sagen die Fans des 30-Jährigen voraus, die auf seiner Homepage ihre Prognose abgeben durften. Dass er in den Endlauf kommt, glauben, Stand Freitag, 90 Prozent. Platz neun ist ermutigend, weil die Konkurrenz auf dieser Strecke hart ist, vor allem die afrikanische. Und weil diese Zahl zeigt, dass er zumindest für diese Fans nicht unter übergroßem Erwartungsdruck steht. Die Frage ist jetzt nur: Werden das die anderen Zuschauer genauso sehen? Jan Fitschen ist ja nicht bloß ein Mitläufer. Jan Fitschen ist Europameister.

Vielleicht ist Fitschens Rennen in Osaka ein Testlauf für die ganze deutsche Leichtathletik. Denn es geht darum, wie sie in Zukunft wahrgenommen wird, gerade auf Strecken, die von anderen Ländern beherrscht werden und auf denen der Dopingverdacht zudem immer mitläuft. Welche Wertschätzung wird von deutschen Zuschauern, von Medien, aber auch den eigenen TeamkollegenMannschaftskollegen einem neunten Platz entgegengebracht? Wird er gewürdigt? Oder verspottet, dieser Platz neun? Weil nur der Sieger ein Held ist?

Jan Fitschen ist seit 2005, seit seinem überraschenden Sieg bei der EM in Göteborg über 10 000 Meter, nicht bloß ein Goldmedaillengewinner – er ist die neue populäre Persönlichkeit der deutschen Leichtathletik. Die Verbandsfunktionäre haben ihn nach der EM ganz offiziell als das neue Gesicht der deutschen Leichtathletik präsentiert. Später wurde er zum Leichtathleten des Jahres gewählt. Nach der EM kam der 30-Jährige auf sechs Fernsehtermine in einer Woche. Aber die Popularität kann auch zur Last werden. Fitschen sagt: „Wenn ich das Finale erreiche, ist das ein Triumph für mich.“

Die Fans könnten sich freuen über diesen Triumph. Aber das geht nur, wenn sie nicht bloß seinen Titel registrieren, sondern auch die Geschichte, wie er zustande gekommen ist. Und dass dieser Titel nicht mit der WM verknüpft werden kann. Fitschen wurde Europameister, weil es ein taktisches Rennen war und weil sich mehrere Gegner am Schluss überholen ließen. Zudem hatte er sich vier Monate lang in der Höhe von Flagstaff, in den USA, auf Göteborg vorbereiten können, weil er die relativ niedrige EM-Norm frühzeitig erreicht hatte. Als Journalisten nach Fitschens Freude feststellten, mit Blick auf die WM oder auf Olympia 2008 in Peking sei dieser Titel nicht viel wert, entgegnete DLV-Vizepräsident Eike Emrich: „Der Athlet hat ein Recht auf Gegenwart.“

Für Osaka wäre Fitschen schon an der Norm über 10 000 Meter gescheitert, sie liegt bei 28:06 Minuten. Seine Bestzeit, die Siegerzeit von Göteborg beträgt 28:10,94 Minuten. In Japan startet er nur über 5000 Meter, und die Norm unterbot er erst nach Ende der Qualifikationsfrist. Er startet deshalb nur mit einer Ausnahmegenehmigung. Mit 13:14,85 Minuten unterbot er die Norm zwar gleich um sieben Sekunden, aber in der Weltrangliste steht er damit gerade einmal auf Platz 40. Vor ihm sind Läufer, die in diesem Jahr zehn Sekunden oder noch schneller sind.

Von einigen von ihnen unterscheidet sich Fitschen allerdings in zweifacher Hinsicht. Zum einen bereitet er neben dem Sport seine berufliche Zukunft vor. Fitschen studiert Physik. „Er hat die doppelte Belastung. Auch das verdient Anerkennung“, sagt Emrich. Zum anderen spricht sich Fitschen offen gegen Doping aus. Am Handgelenk trägt er das Plastikband mit der Aufschrift „True athlete“ – wahrer, ehrlicher Athlet. Vor ihm in der Weltrangliste stehen ohnehin Läufer, die längst nicht so streng auf Doping kontrolliert werden wie der Deutsche. Beweise gibt es keine, aber muss Fitschen sich wirklich uneingeschränkt an diesen Athleten messen lassen? Auf jeden Fall würde dieser Vergleich den Druck auf saubere Athleten erhöhen, ebenfalls zu verbotenen Mitteln zu greifen.

Fitschen rennt nicht nur auf der Bahn gegen die Norm. Er attackiert sie auch außerhalb des Stadions. „Wenn man sie etwas moderater ausgelegt hätte, hätte ich schon früher internationale Erfolge gehabt“, sagt er. „Die Norm ist wie eine Mauer. Ich bin schon oft dagegen gelaufen.“ Vor allem hat er als Langstreckenläufer nur wenige Rennen in der Saison, um die gewünschte Zeit zu erreichen.

Nach Osaka kommt Fitschen quasi atemlos, ziemlich gehetzt von den Erwartungen und dem Kampf ums WM-Ticket. Er muss auf viele Überraschungseffekte hoffen. Eine Überraschung wäre ein Platz unter den besten acht. Dann kommt es darauf an, wie ein solcher Platz bewertet wird. Mittelmaß? Mittelklasse? Oder einfach als außergewöhnliche Leistung eines Athleten, der wahrscheinlich nur mit Talent und Training sein Leben als rennender Physikstudent meistert.

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