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STEILPASS Fans: Mein Gott, Jürgen

Dirk Gieselmann über die Anbetung von Fußballern im Wandel der Zeit.

Ich hatte mal Latein in der Schule, es ist lange her. Viel ist nicht hängen geblieben, aber dass fanaticus in etwa „von einer Gottheit beseelt“ heißt, das weiß ich dann doch noch. Meine Eselsbrücke hält bis heute: Bei fanaticus dachte ich natürlich an einen Fußballfan, und bei Gottheit fiel mir Jürgen Kohler ein – der so genannte Fußballgott. Mein Gott, denke ich jetzt – es ist wirklich verdammt lange her, dass ich Latein in der Schule hatte. In einem anderen Jahrhundert, in einer anderen Welt. Dass dieser durch und durch irdische Vorstopper einmal von Fans zum Gott erhoben worden ist, kommt mir jetzt vor wie ein archaischer Ritus der Sumerer oder Kelten. Wahrscheinlich wurden zu diesem Anlass sogar Lämmer geopfert. Nicht nur, dass Vorstopper längst ausgestorben sind – heute würde sie auch niemand mehr zu Göttern erheben. Die Dribbler, noch mehr die Torjäger sind es, die angebetet werden. Und das nicht, weil sei – wie Kohler – so übermenschlich hart gearbeitet hätten. Sondern vielmehr weil sie von vornherein wie Götter inszeniert werden. Kaum hat ein 17-Jähriger sich zum ersten Mal fehlerfrei die Schuhe zugebunden, kommen Werbestrategen angelaufen, reiben ihn mit Olivenöl ein, stellen ihn auf einen Olymp aus Pappmaché – und fertig ist der Instant-Gott. Der Glaube der Fans an ihn ist nur mehr ein Reflex. Und hohl ist er auch: Hält ein Gott nicht, was er verspricht, wird einfach an den nächsten geglaubt. Früher war das anders: An Jürgen Kohler zu glauben, den Gott der Arbeit, war Arbeit an sich. Harte Arbeit. Wie das Büffeln von Lateinvokabeln. Und was hat es gebracht? Nichts. Früher war wohl doch nicht alles besser. Aber irgendwie echter.

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