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Ulrike Meyfarth

© dpa

Sternstunden: Ulrike Meyfarth: Olympiasieg? Ist doch peinlich

Ulrike Meyfarth gewann mit 16 Jahren in München Gold – verarbeitet hat sie das erst nach ihrer Karriere.

Am Samstag beginnen die Leichtathletik- Weltmeisterschaften in Berlin. Bis dahin widmen wir uns in unserer Serie den Sternstunden der Leichtathletik. Heute Teil drei: Ulrike Meyfarths Olympiasieg 1972.

Kann es für eine Sportlerin ein schöneres Erlebnis geben als dieses? München 1972, Olympische Spiele. Mit 16 Jahren steht Ulrike Meyfarth im Hochsprung-Finale. Es sind zu diesem Zeitpunkt noch die heiteren Spiele, an einen Terroranschlag ist nicht zu denken. Meyfarth übertrifft sich selbst und alle anderen, springt neue Bestleistung, gewinnt die Goldmedaille, stellt den Weltrekord ein, wird die jüngste Einzelolympiasiegerin der Leichtathletikgeschichte. Im eigenen Land. Das ist so viel auf einmal, dass es für einen langen Glücksrausch reichen müsste. Für Ulrike Meyfarth ist es zu viel.

Mehr als ein Jahrzehnt später, als sie ihre Karriere längst beendet hat, abgerundet durch eine zweite olympische Goldmedaille 1984, wird sie sich etwas eingestehen: „Ich war monatelang in einem Schockzustand.“ So erzählt sie es heute. Als Geschichte, die dem Publikum als Erfüllung eines Jugendtraums vorgekommen sein mag. Aber nicht ihrer Hauptdarstellerin.

Was kommen wird, ist Meyfarth schon beim ersten Fernsehinterview nach dem Sieg anzumerken. Im grasgrünen Trainingsanzug steht sie im Studio der ARD, lächelt schüchtern, scheint nicht recht zu wissen, wohin mit sich, antwortet kurz auf die Fragen des Moderators Eberhard Stanjek. Als ihr ein Mitarbeiter des Bundespresseamts im Auftrag von Bundeskanzler Willy Brandt einen Strauß roter Rosen überreicht, verschwindet sie für einen Moment hinter den Blüten und bringt noch hervor: „Vielen Dank, Herr Bundeskanzler.“ Ihr Vater und der Sportjournalist Heinz Maegerlein hätten sich in einer Ecke des Studios schlapp gelacht über ihren Auftritt mit piepsiger Stimme, sagt sie, „die Unbefangenheit war erst einmal weg.“

Zum ersten Mal höher gesprungen als sie selbst

Ulrike Meyfarth ist keine, die einfach drauflosredet. Sie hat sich viele Gedanken gemacht über sich und ihren Sport. Vor den Spielen etwa. „Vier Wochen schulfrei waren etwas Besonderes. Aber ich habe mit Erschrecken gedacht: Das musst du alles aufholen“, erzählt sie in einem Besprechungsraum ihres Klubs Bayer Leverkusen, für den die 53 Jahre alte Diplom-Sportlehrerin heute in der Jugendabteilung arbeitet und Wettkämpfe organisiert. Als Dritte der deutschen Meisterschaften fährt sie nach München, sie soll Erfahrung sammeln für die Olympischen Spiele 1976, die Favoritin ist Ilona Gusenbauer aus Österreich, Weltrekordhalterin mit 1,92 Meter.

Vom Wettkampf laufen Meyfarth immer dieselben Bilder durch den Kopf: die große anonyme Masse. „Du guckst in die Gesichter und kennst keinen.“ Die Anzeigetafel. Und die Hochsprunganlage. Bis zu diesem Finale war ihre Bestleistung 1,85 Meter, aber bei diesem Wettkampf in München wird sie erfahren, was es bedeutet, die eigenen Grenzen zu überwinden. Denn die Latte liegt zum ersten Mal über ihrer Körpergröße von 1,88 Meter.

Vor jedem Sprung in diese neue Dimension geht sie daher zur Latte, fixiert sie, „ich wollte mich optisch anfreunden mit der neuen Höhe“. Als sie die 1,90 Meter im ersten Versuch reißt, pfeifen einige Zuschauer. „Das fand ich ziemlich blöd, aber was sollte ich machen?“ Ihrem Selbstvertrauen schadet es nicht, sie ist gut vorbereitet und springt anders als Gusenbauer mit der neuen Technik, dem Flop, den hat Ulrike Meyfarth von klein auf gelernt.

"Das war mir im Kopf zu hoch"

Ihre Konkurrentinnen beobachtet sie genau, „ich habe immer hingeguckt und überlegt, ob die gut drauf sind“. Sie sieht, wie Gusenbauer dreimal an 1,90 Meter scheitert, ebenso die Bulgarin Jordanka Blagojewa. Sie selbst schafft 1,90 im zweiten Versuch. Sie ist Olympiasiegerin.

Nun steht ihr eine Kür zu. Sie darf sich eine Höhe aussuchen. Meyfarth wählt 1,92 Meter. „Der Bundestrainer hat den Kopf geschüttelt.“ 1,92 sind schließlich nur die Einstellung des Weltrekords, keine neue Bestmarke. „Aber das war mir damals im Kopf zu hoch.“ Sie schafft es jedenfalls. Sie hat die Favoritin Gusenbauer besiegt, ihr aber den Weltrekord nicht ganz weggenommen, weil Meyfarth anschließend an 1,94 Meter scheitert.

Olympiasiegerin zu werden kommt ihr vielleicht heute leichter vor als Olympiasiegerin zu sein. Denn nach dem Sieg beginnt für sie eine merkwürdige Phase der Verunsicherung. In ihrem Gymnasium in Köln erzählt sie nichts von ihren Erlebnissen in München, „weil es mir peinlich war“. Sie geht in der Pause nicht auf den Schulhof, sondern bleibt lieber für sich. „Ständig bin ich beäugt worden.“ Auf den Weg zu ihrem Verein macht sie sich mit Zöpfchen und Hut, um nicht erkannt zu werden. „Haben sie mich aber trotzdem, das fand ich schon erschreckend.“

Die Jungs lässt sie warten

Heute spricht sie mit einer großen Gelassenheit über diese Zeit, die sie so überfordert hat, weil sie genug damit beschäftigt war, erwachsen zu werden. „Ich war eine Spätentwicklerin“, sagt sie. Während ihre Klassenkameradinnen auf dem Höhepunkt der Pubertät angekommen sind, lässt sie die Jungs noch warten.

Auch ihren Eltern wird der Trubel zu viel. „Die waren ziemlich hilflos. Mein Vater hat gesagt: Ich will nicht, dass die Zeitungsreporter uns zu Hause den Teppich schmutzig machen. Meine Mutter hat der Bild-Zeitung zugesagt und der Deutschen Presse-Agentur abgesagt.“ Ulrike Meyfarth, heute Mutter von zwei Töchtern und verheiratet mit dem Rechtsanwalt Roland Nasse, hätte es sich andersherum gewünscht.

Sportlich will ihr erst einmal keine Steigerung gelingen, „ich hatte immer im Hinterkopf, die Super-Olympialeistung muss ich bestätigen. Eine Olympiasiegerin kann es sich nicht leisten, 1,80 zu springen.“ Unter diesem Druck geht die Form auf einmal verloren, bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal erreicht sie das Finale nicht. „Man fühlt sich missachtet“, sagt sie, und in den Medien sei es ausgeschlachtet worden, dass sie zunächst wegen ihrer Abiturnote von knapp über drei keine Zulassung zum Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln erhielt. Später durfte sie dann doch studieren.

Erst der Wechsel zu Trainer Gerd Osenberg nach Leverkusen bringt so etwas wie eine Wende. Ihr Olympiasieg 1984 in Los Angeles ist das schönste Ergebnis davon. Jetzt ist sie die älteste Hochsprung-Olympiasiegerin der Geschichte. Es ist kein Sieg aus dem Nichts mehr, sondern einer mit einem langen, schweren Anlauf und auch noch einer bei Boykott-Spielen. Aber dafür ein Olympiasieg, mit dem Ulrike Meyfarth bestens leben kann.

Bisher erschienen: Jesse Owens 1936 in Berlin, Armin Harys Sprintrekord 1960. Lesen Sie morgen: Ben Johnson in Seoul 1988.

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