zum Hauptinhalt

Sport: Stolz gewinnt

Erst EU-Beitritt, dann Expo, jetzt Fußball-EM: Die Portugiesen wollen Europa ihr Selbstbewusstsein und zehn schmucke Stadien zeigen

Lissabo n. Hey, so eine Baggerfahrt macht Spaß. Rauf auf den Sandberg und gleich wieder runter, schnell eine Fuhre Sand laden, rauf auf den nächsten Hügel und raus mit dem Sand. Auf einer Bank sitzen acht alte Männer, offensichtlich Stammgäste, die auf filterlosen Zigaretten herumkauen und die Bauarbeiten kommentieren: Ja doch, es gebe da noch ein kleines logistisches Problem vor dem Estádio da Luz in Lissabon. Das neue Stadion ist fertig, aber das alte, in direkter Nachbarschaft gelegen, ist noch nicht ganz abgerissen. Deswegen klettert der Bagger über die Sandhügel von Lissabon. Am 4. Juli findet hier das Endspiel um die Fußball-Europameisterschaft statt.

300 Kilometer weiter nördlich: Der Platz vor dem Estádio do Bessa, Heimstatt von Boavista Porto, wirkt wie eine Miniatur des Beiruts der Achtzigerjahre. Hier und da eine halb eingerissene Wand, dazwischen Schutthaufen und verrostete Stahlträger. Nebenan wird das Tribünengebäude verputzt. Boavistas Lokalrivale FC Porto ist schon weiter und will in den kommenden Wochen das neue Estádio do Dragão beziehen. Theoretisch ist es fertig, aber praktisch kommt zurzeit keiner rein, weil die Stadt noch nicht mit dem Bau der Zufahrtsstraßen begonnen hat. Am 12. Juni treffen sich hier Portugal und Griechenland zum Eröffnungsspiel.

Wer in diesen Tagen in den äußersten Südwesten Europas reist, der wundert sich ein wenig, wenn er sich die Stätten der Fußball-Europameisterschaft anschaut. Erlebt Portugal ein Turnier auf Baustellen?

Martin Kallen lacht. „Nein, keine Sorge, das wird alles fertig.“ Martin Kallen ist Schweizer und kein Freund von Improvisationen. Seit 20 Monaten lebt und arbeitet er in Lissabon. „In dieser Zeit habe ich eines gelernt: Auf die Portugiesen kann man sich verlassen. Was sie zusagen, das halten sie auch ein.“ Der Mann weiß, wovon er spricht. Kallen ist Operating Director des europäischen Fußball-Verbandes Uefa, eine Art Universal-Impresario, der Champions-League-Endspiele organisiert und jetzt die EM in Portugal. Vor seinem Büro in der Innenstadt von Lissabon zählt ein elektronisches Laufband den EM-Countdown: noch 146 Tage.

Das ist auf den ersten Blick nicht viel Zeit und auf den zweiten eine kleine Ewigkeit, die portugiesische Maßstäbe berücksichtigt. Hier dauert manches länger und geht dann immer schneller, wenn erst einmal angefangen worden ist. Vor zwei Jahren noch hatte die Uefa den Portugiesen ernsthaft mit dem Entzug des EM-Turniers gedroht. „Das war damals eine Phase, als nicht abzusehen war, dass überhaupt ein Stadion rechtzeitig fertig wird“, sagt Kallen. In Porto ruhten die Arbeiten zeitweilig, weil sich der FC Porto als Bauherr mit der Stadtverwaltung nicht über die Finanzierung einig wurde. In Lissabon sollte das Estádio da Luz eigentlich nur renoviert werden und wurde dann doch, einer Laune folgend, zugunsten eines Neubaus abgerissen. Und in Faro ließen allein vier Pfeiler auf einer Wiese erahnen, dass dort ein Fußballstadion entsteht. Im Parlament stritten Politiker aller Parteien ohne Fraktionszwang über die finanziellen Nachwehen einer EM-Bewerbung, mit deren Erfolg nicht einmal die Portugiesen selbst gerechnet hatten.

Ursprünglich war Spanien der große Favorit für die Ausrichtung des Turniers, Portugal hatte sich dem großen Nachbarn nur als Mitausrichter angeboten. Die Spanier aber wollten das Turnier allein veranstalten und fühlten sich dabei so sicher, dass sie eine halbherzige Bewerbung abgaben und 1999 bei der Abstimmung scheiterten, ausgerechnet an den Portugiesen, die man in Madrid so ernst nimmt wie in Washington die Mexikaner. Portugal versank im Jubel und verdrängte erst einmal alle Gedanken an die finanziellen Belastungen, die eine solche Veranstaltung mit sich bringt. Allein in die zehn Stadien, darunter acht Neubauten, mussten 800 Millionen Euro investiert werden, 25 Prozent davon trug der Staat. Wofür, fragten die Kritiker, brauchen Provinzstädte wie Leiria und Aveiro Stadien, in denen bequem sämtliche 30 000 Einwohner Platz finden? Zur späteren Nutzung des Algarve-Stadions in Faro gibt es nicht einmal einen Klub in der ersten Liga, die in Portugal Superliga heißt und einen Zuschauerschnitt von 8000 aufweist.

Zudem erforderte der Ausbau der Infrastruktur gewaltige Anstrengungen für die ärmste Nation der EU. Porto hatte in den Bewerbungsunterlagen den Bau eines U-Bahnsystems zugesagt, Lissabon eine neue Autobahn bis an die Algarve. Derartige Belastungen vertrugen sich schlecht mit dem überzogenen Staatshaushalt, der das Misstrauen der EU-Zentrale in Brüssel erregt. Der Tenor in den portugiesischen Zeitungen war einstimmig: „Wir haben uns übernommen.“

Ein Stadion im Steinbruch

Am Ende siegte der Nationalstolz über volkswirtschaftliche Bedenken. Die Metro ist fertig, die Autobahn auch, sie verkürzt die Reise von Lissabon nach Lagos auf zweieinhalb Stunden. Eine Maut von 22 Euro trägt zur Refinanzierung bei. Ein Glanzstück lieferten die Portugiesen beim Bau der EM-Stadien: Alle zehn wurden binnen knapp zwei Jahren fertig. Das Estádio do Dragão in Porto gilt mit seinem kühn geschwungenen Dach als eines der schönsten Europas, das Estádio da Luz in Lissabon als eines der modernsten. Das spektakulärste Bauwerk ist das Estádio Municipal in Braga, das der Architekt Souto Moura für 30 000 Zuschauer in einen alten Granitsteinbruch gebaut hat. Ein Jahr lang haben die Sprengmeister daran gearbeitet, den Granit so weit abzutragen, dass sich die mächtige Tribüne in den Hang fügen ließ.

Bei alldem offenbarten die Portugiesen ein bemerkenswertes Talent zur Improvisation. In Leiria etwa wurden die letzten Gehwegplatten am Tag des Eröffnungsspiels verlegt. Die bei der EM obligatorische Sicherheitskontrolle der Fans fiel aus, was an diesem Tag nicht weiter wichtig war, weil der Gegner Kuwait ohnehin keine Fans mitbrachte. Die portugiesische Nationalmannschaft siegte vor 22 000 friedlichen Zuschauern 8:0, und die Herren von der Uefa waren zufrieden.

Längst hat auch die Politik ihren Frieden mit der EM gemacht. Zur Einweihung des prächtigen Estádio da Luz sprach Staatspräsident Jorge Sampaio: „Ich identifiziere mich mit diesem Projekt. Diese Einweihung kann dazu dienen, alle Portugiesen zu vereinen.“ Der Schotte Ernie Walker fand als Vorsitzender der Uefa-Kommission für Stadien und Sicherheit gar: „Was hier in der Kürze der Zeit geschafft worden ist, grenzt an ein Wunder.“

Die Portugiesen nehmen das Kompliment mit der Gelassenheit der ewig Unterschätzten zur Kenntnis. Schon vor der Weltausstellung in Lissabon hätte die ganze Welt eine gigantische Pleite prophezeit. Am Ende machte die Stadt, anders als vorher Sevilla und später Hannover, ein großes Geschäft mit der Expo. Der neu erschlossene Stadtteil im Osten zählt zu den bevorzugten Wohngegenden Lissabons. Die 17 Kilometer lange Vasco-da-Gama-Brücke über den Tejo ist längst das neue Wahrzeichen der Stadt, der Pavilhao Atlantico eine der am besten ausgelastete Mehrzweckhalle Europas. Die Expo 1998 brachte für Portugal den zweiten großen Schub der Nachkriegsgeschichte nach dem EU-Beitritt 1986. Bei der EM will sich in diesem Sommer das neue, selbstbewusste Portugal präsentieren. Wer mag sich da über ein paar Sandhügel in Lissabon aufregen?

Zur Startseite