zum Hauptinhalt
Triumph nach 99 Jahren. Chiles Fußballfans konnten im Juli 2015 den Sieg ihrer Mannschaft bei der Copa América feiern. Foto: dpa/Contreras

© picture alliance / dpa

Südamerikas Fußball im Wandel: Mehr Konkurrenz für Brasilien und Argentinien

Die traditionellen Fußball-Großmächte Südamerikas bekommen Konkurrenz. In Kolumbien, Chile und Uruguay herrscht Aufbruchstimmung.

Drei Monate noch. In exakt 91 Tagen soll die Zukunft dort beginnen, wo die Vergangenheit aufgehört hat. Im Norden Brasiliens, wo es im südamerikanischen Hochsommer erdrückend heiß und schwül sein kann, aber das interessiert Luis Suárez nicht. Er hat die Monate und Wochen und Tage gezählt, bis er endlich wieder das machen kann, was er am liebsten macht. Tore für Uruguay schießen, und zwar nicht in Freundschaftsspielen gegen Oman oder Saudi-Arabien, sondern da, wo es zählt. In den Eliminatorias, der südamerikanischen WM-Qualifikation, die der Kontinentalverband Conmebol wie eine kleine Copa America aufzieht, im Modus „jeder gegen jeden“, mit Hin- und Rückspielen aller zwölf Nationen.

Luis Suárez hat die ersten vier Spiele aus der Ferne betrachten müssen. Jetzt ist sie abgelaufen, die Sperre nach seinem Biss gegen den Italiener Giorgio Chiellini bei der WM 2014. Neun internationale Pflichtspiele, sie verteilten sich über knapp zwei Jahre von der WM in Brasilien über die Copa América in Chile bis zum Start der Qualifikation für die WM 2018 in Russland. „Es war eine schwere Zeit, ich habe vor dem Fernseher so gelitten, wie die Jungs auf dem Platz leiden“, sagt Suárez. „Die größte Strafe war, dass ich nicht bei dieser großartigen Mannschaft sein durfte.“

Der Spielplan hat ihm für das Comeback das spektakulärste aller Spiele beschert. Am 26. März gastiert Suárez mit der Celeste beim großen Nachbarn Brasilien. In der Arena Pernambuco von Recife, nur 300 Kilometer südlich von Natal, wo das Verhängnis mit der Attacke gegen Chiellini seinen Anfang genommen hatte. Uruguay ist sehr gut in die Eliminatorias gestartet ist, mit drei Siegen aus vier Spielen und nur einer knappen Niederlage gegen Ecuador in der Höhenluft von Quito. Und mit Luis Suárez, dem zurzeit besten Mittelstürmer der Welt, ist diese Mannschaft noch mal eine Klasse besser. „Es ist schon etwas Besonderes, dass ich ausgerechnet in Brasilien wieder dieses wunderschöne Trikot tragen darf“, sagt Suárez. „Brasilien muss unbedingt gewinnen, uns würde schon ein Unentschieden genügen.“

In der Tat fügt sich der Neubeginn des Luis Suárez symbolisch schön in die veränderten Machtverhältnisse, die der südamerikanische Fußball gerade erlebt. Vorbei sind die Zeiten, in denen Argentinien und Brasilien über allem schwebten. Die Brasilianer leiden immer noch unter dem 1:7-Trauma von Belo Horizonte gegen die Deutschen. Bei der Copa América im Juni in Chile scheiterte die Seleção dramatisch an dem Anspruch, der mit dem Neustart unter Trainer Carlos Dunga verbunden war. Und die stolzen Argentinier beschleicht von Jahr zu Jahr mehr Verunsicherung darüber, dass ihnen auf der großen Bühne einfach nichts mehr gelingt. Der bislang letzte WM-Titel datiert von 1986, der letzte Gewinn der Copa América von 1993.

Ein Kontinent befindet sich im Wandel. In den Eliminatorias steht Ecuador mit vier Siegen aus vier Spielen blendend da – die Zeit wird zeigen, ob das mehr ist als nur ein vorübergehendes Hoch. Bei der WM 2014 und der Copa America 2015 hatte sich Ecuador jeweils nach der Vorrunde verabschiedet. Die ganz große Herausforderung für die traditionellen Großmächte bringt sich anderswo in Stellung. In Kolumbien, Chile und Uruguay herrscht Aufbruchsstimmung.

Chile etwa sonnt sich im Glück eines großartigen Jahrgangs

Kolumbien war schon bei der WM 2014 die große Überraschung, Chile gewann im vergangenen Sommer nach 99 Jahren erstmals die Copa América, und für die Qualität Uruguays spricht, wie souverän diese winzige Nation die Affäre um Suárez und den Rückzug des Volkshelden Diego Forlán weggesteckt hat. Oscar Washington Tabárez, der Grandseigneur unter den südamerikanischen Trainern, baut eine neue vielversprechende Mannschaft. Wie gut sie schon ist, wird sich am 26. März in Recife zeigen.

Für den Aufschwung des neuen Triumvirats gibt es allerlei Gründe. Chile etwa sonnt sich im Glück eines großartigen Jahrgangs, den die Heimat als goldene Generation verehrt. Arturo Vidal (Bayern München), Gary Medel (Inter Mailand), Alexis Sanchez (Arsenal) oder Claudio Bravo (Barcelona) sind respektierte Führungspersönlichkeiten in europäischen Topklubs. Und alle dienen sie dem Nachwuchs in der Heimat als Vorbilder, was in Kombination mit dem in Südamerika traditionell ausgeprägten Nationalstolz einen steten Nachschub von Talenten verheißt.

Schießwütig. Uruguays Luis Suárez hat seine Sperre fast abgesessen. Foto: dpa/Franco
Schießwütig. Uruguays Luis Suárez hat seine Sperre fast abgesessen. Foto: dpa/Franco

© AFP

In Südamerika ist Fußball immer noch die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg – wie ihn Kolumbien etwa als komplette Nation vollzogen hat. Die Cafeteros stehen sinnbildlich für das neue Kolumbien. Für ein Land, das eine vorwiegend von Gewalt und Drogenkriminalität geprägte Epoche hinter sich gelassen hat. James Rodriguez ist das Gesicht dieses neuen Kolumbiens, und es war eine schöne Koinzidenz, dass er seine Nationalmannschaft auf den Tag genau 20 Jahre nach dem feigen Mord an Andrés Escobar erstmals in das Viertelfinale einer Weltmeisterschaft führte. Escobar war nach einem Eigentor bei der WM 1994 in den USA auf einem Parkplatz in Medellín erschossen worden.

Der Aufstieg des James Rodriguez zum Weltstar ist auch eine Erfolgsgeschichte des FC Porto. Dessen Geschäftsmodell besteht darin, junge Talente in Südamerika aufzuspüren, weiterzubilden und dann mit maximalem Erfolg weiterzuverkaufen. Auf diese Weise hat der Klub in den vergangenen zehn Jahren einen Transferüberschuss von 376 Millionen Euro erwirtschaftet. Zu den prominentesten Figuren auf diesem Karussell gehören die Kolumbianer Jackson Martínez, Radamel Falcao und James Rodriguez. Martínez spielt heute für Atlético Madrid, der nach einem Kreuzbandriss weit zurückgeworfene Falcao für den FC Chelsea, dessen Besitzer Roman Abramowitsch angeblich auch James Rodriguez von Real Madrid nach London holen will.

Aus diesem Export schöpft der kolumbianische Fußball mehr Kraft als aus der eigenen Liga. In den vierziger und fünfziger Jahren war diese Liga mal attraktiv für Weltstars wie Alfredo di Stefano, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Von den 23 Spielern im Kader für die WM 2014 verdiente nur einer sein Geld in der Heimat. Genauso sah es bei den Chilenen aus, und die Uruguayer waren sogar ausschließlich mit Legionären angetreten.

Es gab mal eine Zeit, da hat der Bedeutungsverlust des nationalen Wettbewerbs den ersten aller Weltmeister hart getroffen. Die Primera División de Uruguay genoss einst Weltruf. Peñarol und Nacional, die beiden Großklubs aus Montevideo, haben die Copa Libertadores zusammen achtmal gewonnen, aber der letzte Triumph liegt bald 30 Jahre zurück. Der danach einsetzende Niedergang ist die unmittelbare Konsequenz aus der Abwanderung der Talente nach Europa. Es hat lange gedauert, bis Uruguay diesen Verlust als Chance begriffen hat. Heute versteht sich das Land als Exportnation, die perfekt ausgebildete Spieler nach Europa schickt, wo sie im wöchentlichen Rhythmus auf höchstem Niveau gefordert werden, auf dass die Nationalmannschaft davon profitiert.

Exportschlager. James Rodriguez steht für das neue Kolumbien. Foto: AFP/Bernetti
Exportschlager. James Rodriguez steht für das neue Kolumbien. Foto: AFP/Bernetti

© dpa

Der Maestro Oscar Washington Tabárez sieht seine Aufgabe neben der Moderation des Zusammenwirkens seiner Auslandsstars vor allem in der Ausbildung an der Basis. Wer Genaueres wissen will, sollte sich auf den Weg machen zum Complejo Celeste, ins Trainingszentrum des uruguayischen Fußball-Verbandes, nur ein paar Autominuten entfernt von Montevideos internationalem Flughafen Carrasco. Oscar Washington ist so gut wie jede Woche da und mischt sich ins Tagesgeschäft ein. Weil die Uruguayer nicht viele Fußballspieler haben, müssen sie die wenigen sehr guten möglichst früh und gut ausbilden. Für eine gezielte und strukturierte Förderung kann es durchaus von Vorteil sein, nicht aus zehntausenden Talenten wählen zu müssen, sondern gezielt mit einer überschaubaren Gruppe zu arbeiten. Da passt es gut, dass sich alles für den Fußball Relevante in einer einzigen Stadt abspielt. Zwölf von 16 Klubs der Primera División kommen aus Montevideo. Vereine und Verband haben vereinbart, dass die größten Talente dreimal in der Woche gemeinsam im Complejo Celeste trainieren.

Wer es erst einmal dorthin geschafft hat, wird sich in einer nicht allzu fernen Zukunft auf den Weg nach Europa machen. Später treffen sie sich dann mit umso mehr Spaß und Nationalstolz im Complejo, um sich auf die großen Turniere oder die Spiele der Eliminatorias vorzubereiten. Im März wird auch Luis Suárez wieder dabei sein. Drei Monate noch, er zählt die Tage, an dem er wieder mehr ist als nur der erste Fan der Celeste.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false