zum Hauptinhalt
Philipp Lahm setzte sich bei der Tagesspiegel-Wahl bei Experten und Lesern gleichermaßen durch.

© AFP

Tagesspiegel-Wahl: Lahm ist bester Rechtsverteidiger: Der Schmächtige mit dem harten Kern

Experten-Jury und Tagesspiegel-Leser haben Philipp Lahm zum besten rechten Verteidiger der Bundesliga-Geschichte gewählt. Der frühere Teamkollege Andreas Hinkel erinnert sich an Lahms Durchbruch beim VfB Stuttgart.

Vielleicht ist es am besten, mit einer ungewöhnlichen Übung zu beginnen, wenn wir über Philipp Lahm sprechen. Wir müssten die Augen schließen, all das ausblenden, was uns an Bildern vom Champions-League-Finale 2013 gegen Borussia Dortmund und all seinen Länderspielen im Kopf herumschwebt. Über das, was Philipp Lahm inzwischen erreicht hat, ist viel und ausreichend gesprochen worden. Und es ist logisch, dass das jeder als große Karriere ansieht, weil es das schließlich auch ist. Der Philipp Lahm, den ich kennenlernte, war (noch) ein anderer. Die Zeit damals war nicht weniger interessant. Es ist ein wichtiges Kapitel in seiner Entwicklung, das oft vergessen wird. Die Wurzeln seines Durchbruchs im Nationalteam und bei den Bayern liegen nämlich in Stuttgart, beim VfB. Wer weiß, wie sich die Karriere von Philipp entwickelt hätte, wäre er 2003 nicht von den Bayern zu uns nach Stuttgart ausgeliehen worden.

Ich denke nicht nur an den 1. Oktober 2003, als wir Manchester United in der Champions League 2:1 geschlagen haben. Philipp war in dieser „magischen Nacht“ dabei, er hat gespielt. Darüber, dass er spielt, gab es keinen Zweifel. Allein das zeigt, wie begabt er war. Er war 19, einer der Bayern-Amateure, der sich entwickeln sollte. Am Ende war es eines der erfolgreichsten Ausleih-Projekte der Bundesliga-Geschichte, das die Karriere von Philipp enorm prägte.

Als er kam, wusste keiner wirklich, was der eigentlich kann. Das hat sich schnell geändert. Was auch daran lag, dass unser Trainer Felix Magath hieß. Der ist bekannt für eine harte Vorbereitung und ein hartes Training. Philipp hat das ohne Probleme weggesteckt. Das muss man erst einmal schaffen mit 19. In den Spielen wie im Training hat Philipp unbekümmert gespielt, frei, frisch, genau. Da kamen ihm seine gute Ausbildung in München und seine Fähigkeit, Situationen zu erkennen und eine Lösung zu präsentieren, zugute. Ihn hat damals eine enorme Beharrlichkeit ausgezeichnet. Er blieb einfach dran. Dass ihm mal die Puste ausging oder er aufgab, weil etwas nicht klappte, das gab es praktisch nie. Er hatte im ersten Jahr eine richtig gute Vorbereitung und war schnell im Team.

Er war ein junger Bursche, eher schmächtig. Aber er muss einen harten inneren Kern haben. Dass er sich durchbeißen kann, hat er schon in Stuttgart bewiesen. Der Sprung von den Amateuren in den Profibereich ist einer der schwersten im Fußball. Stuttgart war genau die richtige Umgebung für ihn.

Die Experten-Jury wählte Lahm knapp vor Vogts und Kaltz. Maximal erreichbar waren 132 Punkte.
Die Experten-Jury wählte Lahm knapp vor Vogts und Kaltz. Maximal erreichbar waren 132 Punkte.

© Tsp

Ich war damals 20, nur ein Jahr älter. Und wir waren bald wichtig für den VfB. Eine Szene beschreibt das ziemlich gut. In einer Spielersitzung stand Fernando Meira auf und fragte: „Was können wir für euch tun, um euer Spiel zu unterstützen?“ Ja, wir waren wichtig für die Mannschaft, wir jungen Kerle. Wir haben damals ein System gespielt, das auf starke Außenverteidiger setzte. Im Mittelfeld eine Raute, und wir sollten das Angriffsspiel mit schnellen Vorstößen unterstützen und nach vorne tragen.

Lahms Spiel hat sich verändert, weil die Anforderungen heute andere sind

Das System des VfB ohne starke Außenstürmer, wie es sie heute bei den Bayern in Gestalt von Arjen Robben und Franck Ribéry gibt, wurde also nach Spielern ausgerichtet, die als „junge Wilde“ durchgingen. Und noch etwas ganz Entscheidendes aus seiner Stuttgarter Zeit hat die Karriere von Philipp Lahm beeinflusst und ihn noch Jahre später wie ein Schatten begleitet. Die Diskussion, auf welcher Seite er spielt: rechts oder links?

Die Tagesspiegel-Leser sahen Lahm vor Kaltz und Vogts.
Die Tagesspiegel-Leser sahen Lahm vor Kaltz und Vogts.

© Tsp

Philipp kam eigentlich als Ersatz für die rechte Seite zum VfB. Auf der war ich gesetzt. Mit einem Augenzwinkern kann ich sagen, ich habe dadurch die Laufbahn von Philipp beeinflusst. Ich blieb nämlich rechts, und er – ihn hat Magath auf die linke Seite gestellt. Dass er das dort schaffte, zeigt sein enormes Talent. Und mehr: seinen Ehrgeiz und seine Entschlossenheit. Damals war die Größe eines Spielers viel mehr ein Thema als heute. Philipp ist nicht besonders groß, hat sich aber trotzdem durchgesetzt.

In Stuttgart also hat Philipp gelernt, rechts und links zu spielen. Sein erstes Länderspiel machte er als Stuttgarter, im Februar 2004 in Split gegen Kroatien. Auf der linken Seite gab es auch in der Nationalmannschaft eine Lücke. Der Bundestrainer konnte nicht aus einem Kreis vieler Kandidaten auswählen. Dann war Philipp da.

Vielleicht kann man die Situation mit einem Auto vergleichen, das zwar fährt, einige PS hat, aber doch unscheinbar wirkt und bald zum TÜV muss. Philipp Lahm kam als Rennwagen zurück zu den Bayern. Er hatte sich in der Bundesliga etabliert, in der Champions League durchgesetzt und – vielleicht noch wichtiger – er kam als Nationalspieler zurück in seine Geburtsstadt. Das erleichtert den Start in einem Verein wie Bayern München enorm. Der Stellenwert eines Spielers steigt mit der Nominierung rapide an.

Und noch etwas charakterisiert Philipp Lahm. Der Tag, an dem er nach einem Spiel im Training in Stuttgart liegen blieb. Er hatte sich einen Kreuzbandriss zugezogen. Wer kann sich heute noch daran erinnern, dass Philipp Lahm eine solche schwere Verletzung hatte und wieder zurückkam? Später hat mir die Geschichte seiner Rückkehr geholfen. Ich musste auch einen Kreuzbandriss überstehen und bin zum gleichen Arzt, Doktor Steadman, in die USA geflogen, um mich operieren zu lassen. Mir hat es Mut gemacht zu sehen, dass er es geschafft und anschließend weiter Karriere gemacht hat.

Heute hat sich sein Spiel verändert. Die Bayern spielen ein anderes System, in dem er absolute Raketen vor sich hat. Geblieben ist ihm die Fähigkeit, auf dem Flügel Akzente nach vorne zu setzen. In Stuttgart wurden die Grundlagen geschaffen. Das heute oft erwähnte schnelle Umschaltspiel war die wichtigste Sache für Außenverteidiger. Vorne für Wirbel sorgen und dann nicht rechtzeitig wieder hinten zu sein, das ging nicht.

In meinem letzten Jahr als Profi haben wir uns das letzte Mal gesehen. Er als Bayer, ich als Freiburger. Wir haben nicht über damals gesprochen oder unsere Play-Station-Abende vor vielen Jahren – nein, über unsere Kinder und die Familie. Er war inzwischen 29 und ich knappe 30.

Aufgezeichnet von Oliver Trust.

Andreas Hinkel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false