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Gesamtdeutscher Überflieger. Jens Weißflog gewann die Tournee 1984, 1985 (Foto – in Diensten der DDR), 1991 und 1996.

© Imago/WEREK

Update

Tipps von Jens Weißflog, Dieter Thoma und Sven Hannawald: So gewinnt Severin Freund die Vierschanzentournee

Severin Freund hat den Auftakt der Tournee in Oberstdorf gewonnen. Jens Weißflog, Dieter Thoma und Sven Hannawald verraten, worauf es für einen Gesamtsieg ankommt.

Von Johannes Nedo

Severin Freund hat das Auftaktspringen der 64. Vierschanzentournee in Oberstdorf gewonnen. Wie man den Gesamtsieg bei der Tournee holt, berichten die drei letzten deutschen Sieger.

Jens Weißflog

Ich habe mich bei der Tournee immer heimisch gefühlt. Auch die zusätzliche Aufmerksamkeit und den größeren Stress habe ich immer positiv empfunden. Das Ereignis Vierschanzentournee war für mich besonders am Anfang natürlich unwahrscheinlich groß – und damit auch die Aufregung. Aber wenn es gut bei dir läuft, denkst du eh nicht darüber nach. Du rufst deine Fähigkeiten ab und es passiert – alles funktioniert ganz von allein.

Für mich war es wichtig, in Oberstdorf, Garmisch, Innsbruck und Bischofshofen alles genauso zu tun wie sonst bei den anderen Weltcup-Springen auch. Ich hatte immer meinen typischen Rhythmus, den habe ich bei der Tournee genauso durchgezogen. Selbstverständlich war ich mir immer der besonderen Bedeutung bewusst. Du kannst dich den begeisterten deutschen Zuschauern oder den Schimpfwörtern der österreichischen Fans auch nicht entziehen. Ich habe mich aber nie von der Tradition dieses Wettbewerbs erdrückt gefühlt – und ich hatte auch immer meine Orte, an die ich mich zurückziehen konnte.

Wobei die Anspannung vor der Tournee meist am größten war. Bereits an Weihnachten habe ich nur noch daran gedacht und sogar während der Feiertage oft schon intensiv trainiert. Ich habe mich ständig mit der eigenen Verfassung beschäftigt – und wenn die Generalprobe in Engelberg misslingt, versuchst du auf einmal noch etwas zu ändern und gehst mit mulmigem Gefühl in die Tournee.

In meiner letzten aktiven Saison 1995/96 war das Interesse der Medien und Fans an mir besonders groß. Alle erwarteten den vierten Gesamtsieg, ich wollte mich von der Situation aber auf gar keinen Fall aus der Bahn werfen lassen. Andererseits ist es auch so: Du denkst selbstverständlich über die Gesamtwertung nach. Und da habe ich mich dann mal ausnahmsweise ganz anders verhalten: War ich sonst scheu und habe mich schnell zurückgezogen, habe ich stattdessen offen das Gespräch mit den Zuschauern und den Journalisten gesucht. Das hat ja auch sehr gut geklappt – ich habe gewonnen.

Dieter Thoma: Die Kunst, Gefühle in Bahnen zu lenken

Dieter Thoma

Bei der Tournee gibt es eine besonders große Herausforderung: Du darfst deine Unbekümmertheit nicht verlieren! Das Kribbeln darf nie aufhören! Du solltest die Nervosität als Energie nutzen! Als junger Springer im Alter von 20 Jahren durfte ich die Tournee gewinnen, da war ich in einem sogenannten Fluss und habe es trotz Leistungsschwankungen einfach laufen lassen. Es ist passiert. Es gibt nichts Schöneres, als im entscheidenden Moment voll da zu sein und den Moment bewusst wahrzunehmen. Du entwickelst ein besonderes Gefühl für deinen Körper und deinen Sprung – und versuchst, dieses Gefühl nicht mehr loszulassen. Wenn es gut lief, habe ich nicht über alles tausendmal nachgedacht, sondern bin einfach gesprungen und habe mich maximal auf eine Aufgabe konzentriert.

Einmalig. Dieter Thoma gewann die Tournee 1990, obwohl er nur beim Auftakt in Oberstdorf siegte.
Einmalig. Dieter Thoma gewann die Tournee 1990, obwohl er nur beim Auftakt in Oberstdorf siegte.

© picture-alliance / dpa

Später, als ich älter war, empfand ich es immer als die schwierigste Aufgabe, den Kopf auf Jungbrunnen zu halten und diese Unbekümmertheit weiter zu simulieren, obwohl schon sehr viele negative wie positive Erfahrungen zu verarbeiten waren. Denn du brauchst die Lockerheit. Die Kunst ist es, trotz Anspannung mit allen Sinnen voll da zu sein und genau das zu machen, was man am besten kann – nicht mehr und nicht weniger.

Natürlich musste ich erst lernen, mit der großen öffentlichen Aufmerksamkeit umzugehen. Alles prasselte über mich herein, die Welt um mich herum veränderte sich. Das bekommt man selbst erst gar nicht so mit, denn eigentlich bin ich ja nur etwas weiter gesprungen als sonst. Aber alle guckten mich plötzlich ganz anders an, weil ich nun groß im Fernsehen war. Die Leute sahen mich mit anderen Augen an, mit den neuen Nebenerscheinungen musste ich erst mal klarkommen.

"Unbekannte Menschen wissen mehr über dich als du selbst"

Du wirst oft und gefühlt überall erkannt, dein Privatleben am Stammtisch besprochen und bekommst Angebote, die man nur aus Filmen kennt. Unbekannte Menschen wissen mehr über dich als du selbst und beschäftigen dich weit ab von der Schanze. Doch das darf alles keine Energie kosten, denn andererseits ist es eben auch ein Teil des Ganzen.

Während der Tournee war ich schon auch im Tunnel. Zu den Anfangszeiten war ich sehr engstirnig – zum Glück hat sich das geändert. Ich war leicht reizbar und nicht immer so locker, wie ich es gerne gehabt hätte. Dadurch habe ich einige bessere Platzierungen vergeben. Aber manchmal kannst du aus deinem eigenem Körper nicht heraus und machst Fehler, die du nicht erklären kannst. Erst später habe ich gelernt, dass ich nicht alles zu ernst nehmen darf. Aber ich bin nun mal ein emotionaler Mensch, deswegen gab es bei mir auch große Leistungsschwankungen. Es ist schon eine Kunst, im Sport seine Gefühle in die richtigen Bahnen zu lenken. Wenn man es bei allem schafft, mehr Vorteile als Nachteile zu sehen, ist man auf einem sehr guten Weg.

Sven Hannawald: Es gibt Höheres, das die Geschichte schreibt

Sven Hannawald

Eigentlich sind es ja auch bei der Vierschanzentournee nur ganz normale Sprünge, die du ganz normal angehen musst. Aber sobald du zum ersten Mal bei der Tournee bist, merkst du sehr schnell: Das sind keine normalen Wettkämpfe. Die Tournee ist eine ganz andere Aufgabe. Das Interesse von außen ist viel größer – und so ist auch die eigene Anspannung viel größer. Diese besonderen Umstände kannst du eben nicht trainieren, und deshalb ist es auch so schwer, die Tournee zu gewinnen.

Immer noch unerreicht. Bei seinem Tourneesieg 2002 gewann Sven Hannawald auf allen vier Schanzen.
Immer noch unerreicht. Bei seinem Tourneesieg 2002 gewann Sven Hannawald auf allen vier Schanzen.

© picture-alliance / dpa/dpaweb

Es gibt kein Paraderezept dafür. Nur auf Autopilot zu schalten und von Sieg zu Sieg zu fliegen, funktioniert nicht. Das wäre zu einfach. Es gibt so viele kleine Gedanken, die auf einmal in deinem Kopf herumschwirren und die du nicht herauskriegst. Denn du lernst schon als Nachwuchsathlet: Die Tournee trägt so viel Tradition in sich, dass sie für die Skispringer der wichtigste Wettbewerb ist. Also musst du versuchen, jedes Problem zu lösen und gleichzeitig alles auszublenden, was dich ablenken könnte.

"Die Tournee war für mich wie mein Wohnzimmer"

Bei meinem Vierfach-Sieg 2001/02 hatte ich schon früh in der Saison das Gefühl: Da entwickelt sich etwas! Das war umso bemerkenswerter, weil ich die Saison davor ja frühzeitig beendet hatte. Ich war völlig außer Form. Im Nachhinein hat mir das wahrscheinlich die entscheidende Erholung gebracht. Während der Tournee hatte ich schnell ein gutes Gefühl. Ich kann das schwer beschreiben. Denn ich war nie der Spekulierer, der dachte, ich muss bei den Höhepunkten vorne sein. Aber die Tournee war für mich wie mein Wohnzimmer.

So habe ich einfach gemerkt, dass du gewisse Dinge nicht steuern kannst. Du darfst deinen eigenen Einfluss nicht überfrachten. Es gibt wirklich etwas Höheres, das die Geschichte schreibt. Denn damals, als ich gewonnen habe, habe ich mich zwar riesig gefreut. Aber richtig einschätzen konnte ich es erst viele Jahre später. Dafür ist die Tournee zu groß.

Aufgezeichnet von Johannes Nedo.

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