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Sport: Tödliche Medizin

Birgit Dressel wurde Opfer des Glaubens, dass der Körper eines Spitzensportlers alles aushält

Geblieben sind die Bilder. Im weißen Nationaltrikot etwa, wie Birgit Dressel beim Siebenkampf auf der Laufbahn wartet, die Hände in die Hüften stemmt und ein bisschen kess in die Gegend schaut mit ihren feinen Gesichtszügen. „Man hat ihr die Freude am Sport angesehen“, sagt Sabine Braun, „ihre Lebenslust war ansteckend.“

Die zweimalige Siebenkampf-Weltmeisterin Sabine Braun war mit Birgit Dressel befreundet, genau wie Monika Schulze, die unter ihrem Mädchennamen Stahl zur erweiterten deutschen Spitze der Siebenkämpferinnen gehörte. „Ach, Birgit ist da, haben die Leute gesagt, wenn sie zum Training kam“, erzählt Schulze, „sie hatte für jeden einen Spruch übrig.“

Birgit Dressel, 26 Jahre alt, hatte noch viel vor: Bei der Europameisterschaft 1986 in Stuttgart war sie Vierte geworden. Sie strebte nach Erfolgen bei der WM 1987 und bei Olympia 1988 und wollte mit ihrem Freund und Trainer Thomas Kohlbacher eine Familie gründen. Als Monika Schulze im Trainingslager in Valencia war, kamen auf einmal Vereinskolleginnen auf sie zu. „Birgit ist tot“, sagten sie ihr. Es war der 10. April 1987. „Welche Birgit? Unsere Birgit doch nicht“, entgegnete Schulze. „Ich war wie gelähmt und konnte am Anfang noch nicht einmal weinen.“ Es ist bis heute eine der größten Tragödien des deutschen Sports.

Geblieben sind auch die Gutachten, lange Auflistungen von Medikamenten und medizinischen Prozessen. Sie erzählen etwas anderes als die Bilder. Dass es in Birgit Dressels athletischem Körper schon lange nicht mehr gut aussah, dass sie Schmerzen geplagt haben mussten, weil Nerven entzündet, Muskeln und Knochen überlastet, Organe angegriffen waren. Mehr als 100 verschiedene Medikamente soll sie vor ihrem Tod eingenommen haben, harmlose Mittelchen, die in jeder Hausapotheke stehen, aber auch Schmerztabletten und Anabolika.

Als Todesursache stellten Gutachter fest, es habe sich um einen toxisch-allergischen Schock gehandelt, ausgelöst durch Schmerzmittel, die ihr die Ärzte am Ende verabreicht hatten. Doch die Gutachter schrieben auch, dass die vielen Präparate, die Dressel regelmäßig nahm oder die ihr gegeben wurden, die Entstehung dieser allergischen Reaktion gefördert hatten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen fahrlässiger Tötung, stellte die Ermittlungen aber später ein. Sie hatte keinen Schuldigen finden können.

Bis heute sind die Wunden dieser Tragödie nicht verheilt. In Mainz sagen einige, sie wollten sich nicht die Finger an diesem Thema verbrennen. Manche Athleten behaupten einfach, es sei eben Schicksal gewesen, so ein Allergieschock könne doch jeden treffen. Thomas Kohlbacher erklärt am Telefon, er möchte dazu nichts mehr sagen und wünscht noch freundlich einen schönen Tag. Ihr Vater Hermann Dressel sagt: „Irgendwann muss doch einmal Schluss sein“, und legt auf.

Birgit Dressel, der liebenswürdige Mensch mit dem einnehmenden Wesen. Und Birgit Dressel, die gestorben ist als Opfer des Glaubens, dass der Körper eines Spitzensportlers alles aushält. Zwischen diesen beiden Polen liegt ihre Lebensgeschichte. Als sie in den achtziger Jahren aus Bremen nach Mainz zum Sporttreiben und zum Sportstudium ging, hatte die Leichtathletik dort eine große Bedeutung. Es waren vor allem die Mehrkämpfer, die Aufmerksamkeit auf sich zogen – wie die Zehnkämpfer Guido Kratschmer und Siggi Wentz. Fußball spielte noch keine große Rolle, Mainz 05 kickte in der Oberliga.

Das Leichtathletik-Stadion des Universitätssportclubs Mainz steht am Rande des Campus unter hohen Bäumen direkt hinter dem Botanischen Garten. Die Beschaulichkeit wurde in den achtziger Jahren noch nicht von Dopingkontrolleuren gestört. Dopingtests gab es nur im Wettkampf. Und was wussten Athleten und Trainer schon über Langzeitwirkungen von Anabolika? Alles sei reversibel, hat Birgit Dressel einmal gesagt. Vielleicht hielt sie Anabolika tatsächlich für ein Hilfsmittel, um ihr das harte Training zu erleichtern. Die Sportmedizin fand in der Öffentlichkeit kaum statt, nicht einmal im Privaten. „Wir haben uns über alles unterhalten, aber nie über Medikamente“, erzählt Monika Schulze. Wie sich Dressels Körper verändert habe, wie er immer kräftiger geworden ist, sei ihr nicht entgangen. Gesprochen hat sie darüber nicht mit ihrer Freundin.

In dieser Zeit waren Sportmediziner noch unantastbare Gurus. Professor Armin Klümper gehört zu ihnen, Arzt aus Freiburg. „Natürlich sind wir da alle hingegangen“, sagt Sabine Braun. Das Vertrauen zu ihm war groß, ein ehemaliger Zehnkämpfer nennt ihn sogar seinen „Seelendoktor“. Auch Birgit Dressel wurde von ihm behandelt. „Wir wussten manchmal selbst nicht so genau, was in so einem Cocktail war, den er uns gespritzt hat“, sagt Monika Schulze. In den polizeilichen Vernehmungen gab Klümper an, Dressel seit 1985 insgesamt 140 Injektionen verabreicht zu haben. Zu seiner Behandlung hätten auch Anabolika gehört – „aus medizinischen Gründen“, wie er sagt. Als Klümpers Ruf immer mehr mit Doping in Verbindung gebracht wurde, ging er nach Südafrika.

„Vielleicht waren wir naiv, aber als Spitzensportler will man unbedingt zum Wettkampf. Da nimmt man auch die eine oder andere Spritze mehr in Kauf“, sagt Sabine Braun, betont aber, dass ihre Besuche beim Arzt die Ausnahme gewesen seien. „Schmerzen und Sport gehören für mich nicht zusammen, und man kann auch ohne Doping Spitzenleistungen bringen.“

Drei Tage vor ihrem Tod brach Dressel das Kugelstoßtraining in Mainz wegen starker Rückenschmerzen ab. „Ein Muskelhartspann“, vermutet der Dopingbekämpfer und Heidelberger Zellbiologe Professor Werner Franke. Nach dem Studium der Akten steht für ihn fest: „Das kam vom Anabolikadoping.“ Die Hormone seien zwar nicht die Todesursache, aber sie hätten am Anfang der tödlichen Entwicklung gestanden. Als Birgit Dressel die Schmerzen trotz zahlreicher Medikamente eines Hausarztes kaum noch aushielt und nicht mehr schlafen konnte, kam sie in die Mainzer Uniklinik. Dort bemühten sich in ihren letzten 16 Stunden insgesamt 24 Ärzte um ihre Rettung. Sie stellten Diagnosen und Fehldiagnosen, gaben ihr verschiedenste Medikamente und waren am Ende doch hilflos, als sie auf der Intensivstation der Kinik unter unvorstellbaren Qualen starb, weil gleich mehrere Organe versagten. „Es wäre zu verhindern gewesen, wenn die Ärzte gewusst hätten, dass sie auch Anabolika nahm“, glaubt Franke.

Birgit Dressel, die Diplom-Sportlehrerin, hatte die Kontrolle über ihren Körper schon lange verloren.

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