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Sport: „Totti, Totti, nur für dich!“

Nach dem Sieg gegen Deutschland explodiert der Jubel in ganz Italien

Das Lied ist vom Typ „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, und es grölt sich mindestens genauso prächtig. Nur hat es keine Worte. „O-o-oo-o-o-o“ lautet der Text, die hundertste Strophe klingt wie die erste – und Zehntausende von Römern brüllen es aus heiseren Kehlen, vom Schlusspfiff im Westfalenstadion bis zum Sonnenaufgang danach.

Seit mindestens fünf Jahren, so heißt es, habe Rom kein solches Fest mehr erlebt. Die Meistertitel in der italienischen Serie A, sie wurden allesamt im Norden des Landes gefeiert – ungeachtet der vor Gericht gerade hochaktuellen Frage, auf welche Weise sie errungen worden waren.

Aber nun strömen die Römer auf der Piazza Venezia zusammen, von allen Seiten. Von Minute zu Minute werden es mehr; zu siebt reiten sie auf Autos, zu dritt auf Mopeds, grün-weiß-rote Fahnen flattern überall. Wer nicht gleich halbnackt ist, hat sich in die Fahne gehüllt oder bei den asiatischen Straßenhändlern ein „original azzurro“-T-Shirt erstanden. Selbst eine Gruppe Inder tanzt vergnügt über den Platz, man weiß nicht, ob des blendenden Geschäfts oder der gelungenen Integration wegen.

Wasserbomben fliegen, die Männer von der Straßenreinigung quälen sich erst gar nicht mehr durch die Masse, sondern bieten aus ihren Schläuchen eine kostenlose Dusche an für jeden, der sie in der Hitze der Nacht braucht. Und da sind natürlich auch die berühmten Brunnen. Kein Polizist macht mehr Anstalten, hier das streng Verbotene zu verbieten.

Busse bleiben stecken, lassen dort, wo normalerweise ihr Fahrziel steht, den Schlachtruf „Forza Italia!“ aufleuchten; andere schreiben den Text jenes wortlosen Lieds dorthin, und irgendwann geben sie jeden Versuch der Weiterfahrt auf. Wie die mofalosen Tifosi nach Hause kommen, beim aktuellen Taxi- Streik sowieso? Irgendwie werden sie’s schon schaffen.

Kreischend ziehen sich zwei attraktive Römerinnen aus: „Es ist alles für meinen Totti! Totti, nur für dich!“ Die Papagalli daneben, in der Showpose von Bodybuildern, entblößen grün-weiß-rote Unterhosen, die Menge brüllt vor Begeisterung. Kleinkinder laufen herum, die noch nicht einmal genügend Kraft im Daumen haben, den Sprühknopf ihrer Hupdose zu drücken. Allzu große Kinder recken den rechten Arm nach oben und schreien: „Duce! Duce!“ Später gehen ein paar deutsche Fahnen in Flammen auf.

Ein Krankenwagen bahnt sich den Weg durchs Gewühl. Statt des ortsüblichen, markdurchdringenden Tatütata spielt er die Nationalhymne. Das ist eine Entwicklung, die selbst die Italiener verblüfft: Das Land entdeckt in diesen Tagen seine Hymne. Die Nationalspieler auf dem Rasen, sie kriegen regelmäßig den Mund nicht auf, weil sie den Text nicht kennen oder ihn nicht recht auf die komplizierte Melodie zu verteilen wissen. Aber vor dem protzigen Staatsdenkmal in Rom grölt die Menge voller Seligkeit: „Brüder Italiens, Italien ist aufgewacht. Schließen wir die Reihen. Wir sind bereit zu sterben.“

In der Stadt Bari, in Italiens Süden, hat der Präfekt alle Autokorsos verboten – aber an diesem Abend, nach der „Partie aller Partien“ (Nationaltrainer Marcello Lippi), hält sich natürlich kein Mensch daran. Auch Getränke in Dosen oder Flaschen sollten aus Sicherheitsgründen nicht verkauft werden dürfen, aber durstig geht in Bari keiner vom Feld.

Es explodiert an diesem Abend der Jubel in ganz Italien, vom Domplatz in Mailand angefangen bis hinunter nach Palermo. Und aus allen Städten wird jener Schlachtruf überliefert, den am Morgen danach auch sämtliche Zeitungen aufgreifen: „Deutsche, diese Pizza müsst ihr jetzt schlucken!“ Noch höhnischer konnte Italiens Antwort auf den Aufruf der „Bild“-Zeitung zum Pizzaboykott nicht ausfallen.

Auf den Titelseiten der italienischen Zeitungen prangt am Mittwoch beides, Himmel und Hölle, der Sieg in Dortmund und die Strafanträge aus Rom. Die Rückstufung von vier Spitzenmannschaften in die B- oder gar die C-Liga verlangt der Staatsanwalt. 13 Spieler der Nationalmannschaft haben auf diese Weise, einen halben Tag vor dem glücklichen Spiel, ihre Heimat verloren – auch wenn die eigentlichen Urteile erst am Tag nach dem Finale fallen und in der glücklichen Nacht schon wieder Rufe nach einer „verdienten Generalamnestie“ laut werden.

Gegen halb zwei Uhr morgens übrigens hat das wortlose Schlachtenlied dann doch noch einen Text gefunden, wenn sich in ihm auch nicht die Eleganz der italienischen Sprache widerspiegelt. „Eh, tedesco passato“, singen sie jetzt. „Ach, du Deutscher“, heißt das frei übersetzt: „Du warst einmal...“ Und die hundertste Strophe klingt wie die erste.

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